Alle nennen mich Esti, kaum jemand kennt mich unter dem Namen Ester. Geboren wurde ich in der drittgrößten Stadt Israels – in Haifa. Als ich sechs Jahre alt war, sind meine Eltern nach Deutschland gezogen. Zu Hause haben wir überwiegend Russisch und Hebräisch gesprochen; Hebräisch habe ich im Kindergarten gelernt.
Meine Eltern wurden Anfang der 70er-Jahre in der Sowjetunion geboren. Mein Vater hat die Zeit dort eher als traumatisch in Erinnerung. Seine Familie stammt aus der Ukraine, aber es ist wenig von ihr bekannt. Sein Vater starb, als mein Vater Jugendlicher war. Und seine Mutter, meine Oma, starb, als ich zwei Jahre alt war. Ich habe also keine Erinnerung an sie.
familie Meine Großmutter mütterlicherseits stammt aus Moldawien und der Vater meiner Mutter aus Rumänien. Alle vier Großeltern waren jüdisch, doch in ihren Herkunftsländern war es schwer, ihr Judentum zu leben. Meine Mutter hatte zwar bereits seit ihrer Kindergartenzeit ein Bewusstsein dafür, dass sie aus einer jüdischen Familie kam, doch dieser Aspekt wurde nie weiter thematisiert. Während des Zerfalls der UdSSR planten beide Familien unabhängig voneinander, nach Israel auszuwandern.
Meine Eltern haben sich in Haifa kennengelernt, am Technion, wo sie studierten. Zu dieser Zeit begannen beide recht intensiv, sich mit dem Judentum und mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Ursprünglich wollten sie Ingenieure werden. Doch mein Vater ließ sich nach dem Studium und dem Armeedienst zum Rabbiner ausbilden. Meine Mutter kümmert sich überwiegend um die Familie.
Ich bin das älteste von fünf Kindern. Mein jüngster Bruder ist sechs Jahre alt, die Zweitälteste ist 16. Ich würde mich als Alphatier bezeichnen, aber nicht im negativen Sinne, ich dominiere meine Geschwister ja nicht. Aber ich weiß, was ich will, und ich habe viele Pläne. Ideale. Eine Vision.
feminismus Ich interessiere und engagiere mich sehr für das Judentum, für den Feminismus, ich begeistere mich für Politik, und ich mag Kunst. In meiner Freizeit male ich in Acryl, aber eher aus Spaß – im Gegensatz zu den anderen Themen habe ich da keine großen Ambitionen.
Als ich das erste Mal nach Deutschland kam, sprach ich kein einziges Wort Deutsch. Trotzdem wurde ich sofort eingeschult. Ich ging auf die jüdische I.E. Lichtigfeld-Schule in Frankfurt. Weil sie von vielen israelischen und russischen Kindern besucht wird, war ich auch nicht so aufgeschmissen und konnte mich trotz geringer Sprachkenntnisse auf Russisch und Hebräisch verständigen. Deutsch habe ich dann aber trotzdem schnell gelernt.
Ich würde mich als Alphatier bezeichnen – aber nicht im negativen Sinne.
Es war ein Glück für mich, dass ich an diese Schule gekommen bin. Die Klassen waren kleiner als an staatlichen Grundschulen, und der kulturelle Hintergrund meiner Mitschüler war ähnlich. Jeder kam woanders her. Ich weiß nicht, wie es für mich gewesen wäre, wenn ich auf eine deutsche Schule gegangen wäre. Vermutlich wäre ich eine Exotin gewesen.
Ich erinnere mich, dass ich zunächst überhaupt nicht nach Deutschland ziehen wollte. Ich hatte meine Freundinnen im Kindergarten, unsere Nachbarn und natürlich meine Großeltern in Haifa! Aber damals, 2006, war der zweite Libanonkrieg, und das war ausschlaggebend dafür, dass meine Eltern Israel verlassen wollten. Wir mussten manchmal in den Luftschutzkeller, selbst im Kindergarten kam das gelegentlich vor.
gerümpel Meine Eltern versuchten, mich zu überzeugen, und erzählten, dass es in Deutschland keinen Krieg, keine Bomben und Bunker gäbe. Das fiel mir dann tatsächlich auch als Erstes auf: In Deutschland standen Kisten und Koffer und allerlei Gerümpel in den Kellern. Es waren keine Luftschutzbunker wie etwa in den alten Gebäuden in Haifa.
Von der sechsten bis zur neunten Klasse besuchte ich in Straßburg ein jüdisches Gymnasium. Ich musste eine Stunde zur Schule fahren, wir wohnten in Karlsruhe. Mein Bagrut, das Abitur, habe ich dann 2019 in Israel gemacht. Dafür war ich ab der 10. Klasse in Israel auf einem Mädcheninternat. Kurioserweise war der Schulleiter ein Mann! Dort ging es eher streng zu, es gab auch einen Dresscode. Nach dem Abi habe ich einen Freiwilligendienst in einer staatlichen Behörde absolviert. Danach ging ich zurück nach Deutschland.
Heute lebe ich in Karlsruhe, studiere Politikwissenschaften an der Fernuniversität Hagen und würde gern noch meinen Master machen, dann allerdings an einer Universität in Israel.
Initiative Seit dem Beginn der Pandemie ist sehr viel passiert in der Welt, manches davon geht mir richtig ans Herz. Man muss sich unbedingt engagieren. In so einer Phase des Nachdenkens habe ich gemeinsam mit meiner besten Freundin Emiliya ein Projekt ins Leben gerufen: Es heißt »May Chaim« und ist eine Art Lerninitiative, die wir beide selbst erarbeitet und aufgebaut haben. May Chaim ist etwas, was uns ganz persönlich gefehlt hat. Die Bedeutung von »May« ist Wasser. Und »Chaim« steht für Leben. Das »lebendige Wasser« symbolisiert die lebendige Tora.
Zunächst haben wir eine May-Chaim-WhatsApp-Gruppe gegründet. Schnell waren 30 Mitglieder dabei. Heute sind es 125 Follower, die uns regelmäßig in den sozialen Medien begleiten, und es werden immer mehr. Im Juli hatten wir sogar ein Wochenendtreffen in Berlin, ein Schabbaton in Kooperation mit Morascha. Es war für uns eine extrem bereichernde Erfahrung. Es ist etwas völlig anderes, wenn man sich persönlich kennenlernt.
Woher unsere Inspiration kam? Ursprünglich wollten wir nach der Schule mehr über die Tora erfahren. Dafür haben wir uns einen Rahmen gewünscht, in dem wir uns mit anderen jüdischen Mädchen und Frauen austauschen konnten. Feministische Themen waren schon sehr früh ein Anliegen von mir. Denn meiner Erfahrung nach wird Mädchen selten dasselbe beigebracht wie gleichaltrigen Jungs, das geht schon in der Schule los.
botschaft Unsere Botschaft ist, dass Frauen nicht nur alles lernen können, was Männer lernen können, sondern dass ohne das Gelehrtentum von Frauen die Welt der Tora und das Judentum nicht vollständig sind und folglich etwas verpasst wird.
Deshalb wollten wir eine Community für deutschsprachige jüdische Frauen etablieren, die einen sicheren Raum und Rahmen für unser Engagement bietet. Die Frage ist, ob Frauen in einer Kultur und Religionsgemeinschaft nur deshalb benachteiligt werden, weil sie von Männern dominiert wird, oder ob das durch die Gesetze begründet ist.
Wir haben Vorbilder wie etwa die orthodoxe Rabbinerin Rebecca Blady, die auch eine Feministin ist. Oder die in Israel und den USA beheimatete Organisation Chochmat Nashim mit Shoshanna Keats Jaskoll als Gründerin, eine Journalistin aus den USA, die inzwischen in Israel lebt. Ebenso Rebbetzin Avital Chizhik-Goldschmidt, eine Journalistin aus New York.
podcast Jetzt wollen wir einen Schritt weiter gehen und denken über einen May-Chaim-Podcast nach. Schließlich wollen wir unsere Stimmen für alle hörbar machen und das Bewusstsein anderer stärken. Man muss sich nicht alles gefallen lassen, im Gegenteil, man darf sich etwas zutrauen. Letztlich geht es um die Selbstbestimmung von jüdischen Frauen.
Manchmal werde ich gefragt, woher ich die Kraft für meine Ideale nehme. Sie kommt tatsächlich daher, dass ich ein großes Vertrauen in das jüdische Volk und in die jüdische Welt habe. Wir können vieles besser machen, und ich glaube auch an die Fähigkeit der Menschen an sich, Dinge, die vielleicht kompliziert erscheinen, zu lösen. Eine Kultur, die so etwas wie ein verbindendes Element hat, sollte es doch nicht nötig haben, Mädchen und Frauen auszugrenzen.
Aufgezeichnet von Alicia Rust