Porträt

»Man muss sich einmischen«

Hat an der Uni ein »Bündnis gegen Antisemitismus« gegründet: Micha Groys (22) Foto: Flash 90

Ich bin ein politischer Mensch und will etwas verändern. Zum ersten Mal ist mir vor knapp zehn Jahren deutlich geworden, dass man sich einmischen muss. Wir waren ein paar Jahre zuvor aus der Ukraine nach Berlin gekommen, und ich ging in eine staatliche Grundschule.

Eine Auseinandersetzung mit einem arabischstämmigen Jugendlichen brachte meine Eltern dazu, mich dort ab- und an der Heinz-Galinski-Grundschule anzumelden. Ich würde diesen Konflikt nicht groß als antisemitisch bezeichnen, aber mir wurde klar, dass man machen kann, was man will – die Einteilung in Schubladen treffen andere. Dagegen wollte ich etwas tun.

Gefilte Fisch Der Schulwechsel war eine Zäsur in meinem Leben. Bis dahin hatte ich ein diffuses Verständnis von Jüdischkeit. Es gab Jerusalem, Gefilte Fisch und eine Anhäufung jüdischer Dinge in meinem Leben, aber ohne profunde Kenntnis. Mit dem Eintritt in die Heinz-Galinski-Schule eröffnete sich mir eine neue, eine jüdische Welt.

Dort gab es jüdische Kultur, die hebräische Sprache – und vor allem gab es jüdische Kinder, die dieselben Probleme und ähnliche Interessen wie ich hatten. Das war nicht unproblematisch, denke ich heute, denn wir lebten wie auf einer Insel, auf der manchmal das andere nicht wahrgenommen wurde. Für meine religiöse Entwicklung war es aber sehr wichtig.

Dass ich danach aufs jüdische Gymnasium gegangen bin, war nur logisch. Es ging dort familiär zu – ich würde sagen, ich fühlte mich heimisch. Wir hatten kleine Klassen, und es gab ein enges Gemeinschaftsgefühl. Das hat mich motiviert, aktiv zu sein. Ich wurde zum Klassensprecher gewählt und blieb es bis zum Abschluss. Ich hatte in dieser Zeit das Glück, ein Stipendium zu bekommen, das die Hertie-Stiftung für Zuwandererkinder vergibt.

Eltern Ich wurde 1991 in Donezk, einem Kohlerevier in der Ukraine, geboren. Mein Vater war in einem Bergbaubetrieb für Finanzen zuständig, meine Mutter hat dort im Sekretariat gearbeitet. Meine Familie ist durchaus traditionsbewusst, aber Judentum zu leben, war damals in den 90er-Jahren nicht einfach. Wir waren Juden, aber unser Leben war nicht religiös. Wir haben nicht den Schabbat gehalten. Der einzige Bezug zum Judentum waren meine Großeltern, sie sprachen miteinander Jiddisch.

1998 kamen wir nach Deutschland, weil es in der Ukraine soziale und wirtschaftliche Probleme gab. Meine Eltern hatten Positionen mit Verantwortung, aber sie verdienten nicht viel. Wir hatten bereits Verwandte in Deutschland, und meine Eltern erhofften sich, dass wenigstens ich dort eine Zukunft haben würde. Außerdem spielte bei der Entscheidung, auszuwandern, auch der Antisemitismus eine Rolle. Er war allgegenwärtig im Alltag und auf der Arbeit – nicht immer massiv, aber immer virulent.

Über ihre eigenen Zukunftschancen haben sich meine Eltern hingegen wenig Illusionen gemacht. Sie haben mich motiviert und mir den Weg in Deutschland vorgegeben: Du musst zur Schule gehen, musst gut sein – besser als deine Mitschüler! Du musst aufs Gymnasium gehen und studieren. Das war die klare Linie nach unserer Ankunft in Deutschland, die sie mir vorgaben. Ich sollte es einmal besser haben als sie. Es gab keine Ausreden. Das Ziel war Bildung. Das war meine »Agenda 1998«, wie ich immer sage.

Zuerst waren wir in zwei Ausländerheimen in der Nähe der polnischen Grenze. Im Herbst 1999 sind wir dann nach Berlin gekommen. In diesen Heimen waren wir jüdischen Zuwanderer zusammen mit Russlanddeutschen. Diese Zeit hat einen besonderen Eindruck bei mir hinterlassen: Ich kam als junger Mensch in ein fremdes Land, verstand noch gar nicht richtig, was hier gerade abgeht, und hoffte natürlich, willkommen zu sein.

Doch davon merkten wir nichts, auch von den jüdischen Gemeinden kam wenig. Ich weiß inzwischen, dass sie eine Integrationsaufgabe aufgehalst bekommen hatten, die sie gar nicht bewältigen konnten. Aber man hätte mehr Visionen entwickeln können und eine Konzeption erarbeiten müssen, wie man den Zuwanderern helfen kann. Wir haben wenig Unterstützung bekommen. Was wir erreicht haben, ist das Ergebnis eigener Bemühungen.

Ablehnung In einigen Synagogen, die deutschsprachig geprägt waren, spürten wir Ablehnung. Es fehlte ein warmes Wort wie: »Kommt, Brüder und Schwestern, wir sind froh, dass ihr hier seid.« Ich war jung und habe mir nicht so viel daraus gemacht, aber die Älteren hat es getroffen. Natürlich waren wir nicht religiös – wie denn auch, nachdem man uns 80 Jahre lang gepredigt hatte, dass Religion »Opium fürs Volk« sei?

»Ich gehe zwar nicht jeden Tag in die Synagoge«, sagte mein Vater, »aber damals in der Sowjetunion stand in meinem Pass ›Jude‹, da habe ich mich nicht versteckt. Ich werde kein Zaddik, aber ich bleibe meinem Judentum bis zum Tod treu.«

Als Stipendiat der Hertie-Stiftung nahm ich zum ersten Mal an einer Jahresversammlung teil. Dort habe ich andere Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsländern getroffen. Alle hatten in der Schule gute Leistungen. Es war ein tolles Gefühl, diese Vielfalt zu sehen und zu verstehen, dass man Türke oder Jude sein und trotzdem die gleichen Probleme in diesem Land haben kann. Die Rede von Otto Schily auf diesem Kongress ist mir noch gut in Erinnerung. Sinngemäß sagte er: »Wir wollen euch Immigranten, wir glauben an euch und fördern euch, aber wir fordern von euch auch etwas.« Da habe ich das erste Mal verstanden, dass mich in diesem Land überhaupt jemand haben will. Das war mir vorher nicht so klar.

In dieser Phase habe ich mich entschieden, aus meinem Hobby Politik einen Beruf zu machen. Mit 17 habe ich mir nach dem Ausschlussverfahren systematisch alle Parteien angeschaut, um zu entscheiden, in welche ich eintrete – und bin dann im Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten (AJS) gelandet. Zwei Jahre war ich Gastmitglied der SPD, und an einem 1. Mai bin ich dann in die Partei eingetreten. Außerdem bin ich Mitglied der Jusos.

Nach wie vor lebe ich in Berlin und studiere inzwischen als Stipendiat der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung Politik,Verwaltung und öffentliches Recht an der Universität Potsdam.

Bündnis Ich habe beim SPD-Landesparteitag an dem Antrag über die verpflichtenden Lehrerfortbildungen im Bereich Antisemitismus intensiv mitgearbeitet. Außerdem gehöre ich der Initiative Schalom an. Wir wollen innerhalb und außerhalb der Gemeinde jüdisches Leben widerspiegeln, jüdische Politik lebendig und seriös gestalten. Und an der Uni habe ich das »Bündnis gegen Antisemitismus« gegründet.

Vor Kurzem war ich in São Paulo bei einem Treffen jüdischer Jugendlicher. Da habe ich diese Stärke gespürt. Wir sind da, und ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Es ist nicht so, dass ich weniger stolz darauf wäre, Sozialdemokrat zu sein oder Mensch. Aber das hat mir als Jude Kraft gegeben. Und alle, die davon reden, dass sich Identitäten, Werte und Traditionen auflösen, denen muss ich sagen: Wir brauchen diese Stärke nach innen, wir brauchen das Gemeinschaftsgefühl.

Deshalb schmerzt es mich immer, wenn ich den Streit in den Gemeinden erlebe. Wir brauchen eine Streitkultur, und ich hoffe, mit meinem Studium auch dafür das Instrumentarium zu bekommen. Wir sind der Idee von Heinz Galinski verpflichtet, der uns hierhergeholt hat.

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