Porträt der Woche

»Man muss nach vorn schauen«

Shelly Ezra ist Klarinettistin und gründete das deutsch-israelische »Else Ensemble«

von Eugen El  15.11.2020 10:30 Uhr

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Musikbetrieb schnell wieder wie vorher wird«: Shelly Ezra lebt in Frankfurt. Foto: Rafael Herlich

Shelly Ezra ist Klarinettistin und gründete das deutsch-israelische »Else Ensemble«

von Eugen El  15.11.2020 10:30 Uhr

Ich spiele Klarinette. Die Musik ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Ich kann mir mich selbst nicht ohne die Musik vorstellen. Sie ist wie ein Organ geworden. Man muss sehr früh, von klein auf, anfangen und ziemlich viel üben. Es ist wie Sport: Wenn man zu spät damit anfängt, hat man keine Chance mehr.

Ich wurde 1985 in Lehavim, einem sehr kleinen Vorort von Beer Sheva, geboren. Dort bin ich auch zur Schule gegangen. Meine Mutter kommt gebürtig aus Prag, wurde aber schon als Baby nach Israel gebracht. Mein Vater wurde in Israel geboren, seine Familie stammt aber aus dem Irak. Viele in Israel sind so: Es ist ein Nationensalat.

Unterricht Meine Eltern sind zwar kulturell und musikalisch aufgeschlossen, aber sie haben selbst kein Instrument gespielt. Sie fanden es sehr bereichernd und wollten, dass wir Musikunterricht haben. Sie waren bereit, dafür viel zu investieren. Anfangs konnten wir als Kinder nicht allein zum Konservatorium nach Tel Aviv fahren, daher fuhr uns unser Vater dorthin.

Mein großer Bruder hat mit der Klarinette angefangen. Er hatte einen großartigen Lehrer, Yitzhak Katzap. Schon als kleines Kind war ich von Katzap begeistert und wollte unbedingt bei ihm Unterricht nehmen. Meine Eltern wollten eigentlich, dass ich Flöte spiele. Auch der Lehrer war nicht begeistert, zwei Geschwister zu haben, die das gleiche Instrument spielen. Aber letztendlich habe ich mich durchgesetzt.

So hatte ich als Schülerin zweimal in der Woche Musikunterricht in Tel Aviv. Es war stressig, denn es ist schon ein Stückchen Weg dorthin. Ich musste mit öffentlichen Verkehrsmitteln etwa 100 Kilometer fahren. Damals hatten wir in Lehavim noch keinen Bahnhof. Das heißt, ich musste erst einmal zurück nach Beer Sheva fahren, von dort aus weiter nach Tel Aviv und dort zusätzlich in den Bus umsteigen. Das war schon eine Herausforderung.

Als Kind fuhr ich zweimal pro Woche von Beer Sheva nach Tel Aviv zum Musikunterricht.

Nach Deutschland kam ich im Alter von etwa 19 Jahren. Zuerst lernte ich an der Musikhochschule Lübeck. Bei der Entscheidung, dorthin zu gehen, gaben vor allem die Lehrer den Ausschlag. Die von Sabine Meyer und Reiner Wehle geleitete Lübecker Klarinettenklasse ist hervorragend und genießt international einen sehr guten Ruf. Ich wollte unbedingt dorthin. Noch bevor ich die Aufnahmeprüfung absolvierte, nahm ich Kontakt mit Meyer und Wehle auf und schickte ihnen Aufnahmen. Zwischendurch ging ich für ein Jahr zum Studieren nach London.

Nach der Lübecker Zeit setzte ich meine Studien an einer Solistenklasse in Weimar fort. 2012 kam ich nach Frankfurt. Hier habe ich an der Internationalen Ensemble Modern Akademie studiert. Als ich fertig war, spielte ich ein Jahr lang in einem Orchester in Portugal. Als ich dann nach Deutschland zurückkehrte, wusste ich nicht so genau, wohin ich ziehen soll.

Als freischaffende Musikerin kann ich eigentlich überall wohnen. Doch ich wollte mich dort niederlassen, wo ich auch Freunde habe. Dafür kamen entweder Berlin oder Frankfurt infrage. Da ich so viel unterwegs bin, entschied ich mich für Frankfurt. Berlin ist natürlich toll, aber geografisch liegt die Stadt weniger günstig. Das hätte bedeutet, immer lange fahren zu müssen. Letztlich ist mir Berlin auf Dauer zu groß. In Frankfurt lebe ich sehr gern. Die Stadt hat alle Vorteile einer Großstadt, ist aber eigentlich sehr überschaubar.

FREUNDE Mein Freundeskreis ist sehr gemischt. Ich habe israelische, aber auch deutsche und internationale Freunde. Es ist das Schöne an der Musikwelt, dass sie sehr bunt ist. Die Leute kommen von überallher, man baut ziemlich leicht Freundschaften auf. Denn die Musik ist eine starke gemeinsame Basis. Wenn man zusammen musiziert, entsteht eine Nähe auch ohne Worte. Im Konzert müssen wir nonverbal kommunizieren, einander gut fühlen.

Ich lebe sehr gern in Deutschland und fühle mich wohl hier. Für Musiker gibt es keinen besseren Ort.

Ich lebe sehr gern in Deutschland und fühle mich wohl hier. Für Musiker gibt es keinen besseren Ort. Trotzdem ist Israel meine Heimat. Obwohl ich etwas Deutsch spreche: Die Freiheit, die ich in meiner Muttersprache Hebräisch habe, ist damit nicht zu vergleichen.

Damit, dass ich nach Deutschland gezogen bin, hatten meine Eltern nicht wirklich Probleme. Natürlich gibt es die Geschichte. Ein großer Teil der Familie meiner Mutter ist im Krieg umgekommen. Natürlich ist es nicht ganz leicht, aber man muss irgendwie nach vorne schauen. Mein Bruder lebt auch in Deutschland, nahe der Grenze zur Schweiz. Er unterrichtet an einer Musikschule und hat zudem, wie ich, einen Lehrauftrag an der Hochschule für Musik in Trossingen.

DICHTERIN Ich kann nicht sagen, dass ich sehr religiös bin. Aber ich halte mich gern an die Tradition und begehe die jüdischen Feiertage. Zum Glück gibt es in Frankfurt eine jüdische Schule. Ich wäre sehr froh, wenn meine zukünftigen Kinder dorthin gehen würden.

Ich lese unglaublich gern, vor allem Literatur, und würde gern mehr Zeit dafür investieren. Ich lese fast nur auf Hebräisch. Meist komme ich erst abends dazu, das ist für mich Entspannung. Fachliteratur lese ich entweder auf Englisch oder Deutsch.

Ich spiele eine Bandbreite verschiedener Stilrichtungen. Ich bin klassisch für Solo-, Kammermusik und Orchester ausgebildet. An der Ensemble Modern Akademie habe ich mich auf Neue Musik spezialisiert. Danach habe ich noch Alte Musik in Trossingen studiert. Dort habe ich mich mit historischen Instrumenten beschäftigt. Ich mache also alles.

2015 gründete ich »Else«, ein deutsch-israelisches Ensemble. Es ist nach der jüdischen Dichterin und Malerin Else Lasker-Schüler benannt, die 1869 in der Nähe von Wuppertal geboren wurde und 1945 in Jerusalem starb. Wir investieren viel Zeit und Mühe, Komponisten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die flüchten mussten und deren Musik dadurch verschwand oder in der Zeit nicht gespielt werden durfte, zu würdigen.

Wir investieren viel Zeit und Mühe, Komponisten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu würdigen, die flüchten mussten.

Der jüdische Komponist Hans Gál ist ein gutes Beispiel. Seine Musik ist sehr schön, aber er ist völlig vergessen. Wir spielen ihn immer wieder. Auch Robert Kahns spätromantische Musik ist superschön. Wir wollen auch Musik von Komponistinnen fördern. Voraussichtlich 2021 werden wir in Kooperation mit dem Hessischen Rundfunk eine CD mit Kompositionen von Johanna Senfter einspielen.

Mit dem »Else Ensemble« möchten wir zudem ein kleines Festival veranstalten, um die Städtepartnerschaft von Frankfurt und Tel Aviv zu feiern. Viele Künste sollen zusammenkommen: Musik, Literatur, vielleicht auch Tanz. Es ist momentan nur eine Idee. Geplant ist es für Sommer 2021. Hoffentlich wird die Corona-Lage bis dahin ruhiger. Eine Veranstaltung soll sich mit Politik in den Augen der Literatur beschäftigen. Dafür haben wir schon Kontakt mit dem Schriftsteller David Grossman aufgenommen – und er hat Interesse gezeigt.

Als freischaffende Musikerin habe ich keine Routine. Es gibt Tage, an denen ich unterwegs bin. Dann probe ich viel oder spiele Konzerte. Es gibt Tage, wo ich zu Hause bin. Ich übe dann sehr viel, mache aber auch meine Büroarbeit. Ich muss für jedes Konzert Dutzende E-Mails mit dem Veranstalter und den Kollegen austauschen. Dann muss man noch Noten verschicken, An- und Abreise sowie Hotelübernachtungen organisieren. Man macht alles: Sekretariat, Reisebüro, Künstleragentur und dazu auch noch ein bisschen Musik.

LOCKDOWN Am 1. März bin ich nach Israel geflogen, um zu wählen. Danach sollte ich dort viele Konzerte spielen, unter anderem eine Tournee mit meinem Else Ensemble. Natürlich wurde alles abgesagt. Dann konnte ich nicht mehr zurück nach Deutschland. Letztlich blieb ich fünf Monate in Israel. Aber es war nicht schlimm, denn alle meine Konzerte hier in Deutschland wurden ebenfalls abgesagt. Ich bin viel zu Hause geblieben, habe nur wenige Leute getroffen. Dadurch, dass meine Eltern zur Risikogruppe gehören, wollte ich nicht viel unternehmen.

Erst Anfang August kehrte ich nach Frankfurt zurück. Seitdem spielte ich immer wieder. Natürlich nicht im normalen Rhythmus. Man musste in der Zeit vor dem zweiten Teil-Lockdown, der nun in Kraft ist, das Programm auf eine Stunde verkürzen, sodass man auf die Pause verzichten konnte. Dafür habe ich zwei Konzerte am Tag gespielt, da das Publikum geteilt wurde. Seit dem neuen Lockdown ist nun wieder alles anders.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Musikbetrieb schnell wieder wie vorher wird. Uns erwartet eine sehr harte Saison. Ich glaube, wir werden den Einfluss der Corona-Krise noch im nächsten Sommer spüren, wo normalerweise alle Musikfestivals stattfinden. Die Planung für die Festivals läuft schon, aber von Normalität sind wir noch weit entfernt.

Aufgezeichnet von Eugen El

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