Porträt der Woche

»Man muss aktiv sein«

Rachel Kohn mit ihrer Installation joshwej tewel (Erdenbürger) zum Projekt LABA Berlin Foto: Pierre Fryberg

Die grauenvollen Fernsehbilder, die wir in diesen Tagen von Mariupol und anderen ukrainischen Städten sehen, erinnern mich an Sarajevo, das ich im Jahr 1996 besucht habe. Schon zwei Jahre zuvor hatte ich mit Freunden den Verein »Benevolencija Deutschland« gegründet, um die jüdische Gemeinde, die außerhalb des Konflikts stand, in ihrer humanitären Arbeit zu unterstützen.

Als ich dann nach Sarajevo kam, habe ich zerbombte Hochhäuser gesehen, alles schwarz, nur hin und wieder ein Balkon, auf dem Wäsche zum Trocknen hing. Jemand hatte sich dort eine provisorische Bleibe gesucht. Der jüdische Friedhof durfte nicht betreten werden, da überall noch Blindgänger lauerten.

Bosnien hat sich bis heute nicht von diesem Schlag erholt. Die Familien sind auseinandergerissen, die Alten allein, viele ohne Renten, der Lebensunterhalt teuer. Wir überweisen auch heute noch jährlich etwa 25.000 Euro als Unterstützung des Homecare-Projektes.

FLUCHT Zu den Flüchtlingen des Ukraine-Krieges habe ich eine emotionale Beziehung. Ich war fünf Jahre alt, als meine Eltern mit mir aus der damaligen CSSR nach München flüchteten. In Prag gab es ein Jahrzehnt zuvor schon die Schauprozesse gegen Rudolf Slánský, den vormaligen Generalsekretär der KSC, und weitere Personen. Von den 13 Angeklagten waren zwölf jüdischer Herkunft. Sie wurden hingerichtet, die antisemitische Stimmung blieb.

Mein Vater war Theaterdramaturg und bekam Probleme, da man an seinem Theater in Karlsbad von ihm erwartete, nur noch regimekonforme Stücke auf den Spielplan zu setzen – was er ablehnte. Er wurde Redakteur der neu gegründeten Zeitschrift »Student«, für die er ab und zu ins Ausland fuhr – auch nach Deutschland. Hier hat er den Kontakt zu seiner Pflegemutter gesucht, die ihn nach dem Krieg als alleinstehenden 16-Jährigen in ihre Familie aufgenommen hatte.

Zu den Flüchtlingen des Ukraine-Krieges habe ich eine emotionale Beziehung.

Er selbst hatte Theresienstadt, Auschwitz, einen Todesmarsch und Buchenwald überlebt. Das habe ich aber alles erst erfahren, als meine Eltern mit mir und meinem kleinen Bruder bereits in München lebten, wo mein Vater eine Anstellung beim Radiosender »Free Europe« bekommen hatte.

FAMILIE Das Jüdische spielte in meiner Familie durchaus eine Rolle, und ich wollte unbedingt Hebräisch lernen. Mit 14 habe ich eine Lehrerin gefunden, mit 17 war ich zum ersten Mal in einem Kibbuz. Das hatten Freunde meiner Eltern in Israel für mich organisiert. Dorthin bin ich immer wieder gegangen, und natürlich habe ich über Alija nachgedacht.

Als ich an der Münchener Kunstakademie bereits Bildhauerei studierte, war ich für ein Austauschsemester in Bezhalel, durchaus mit der Option, dort zu bleiben. Gerade zu dieser Zeit aber plante meine Klasse in der Münchener Akademie eine große Reise nach Bolivien. Das war natürlich so attraktiv, dass ich unbedingt mit dabei sein wollte. Außerdem hatte ich in Israel schon gesehen, wie schwer dort das Leben ist. Die Leute waren nur damit beschäftigt, genug Geld zu verdienen.

Andererseits hatte ich mit Mitte zwanzig immer noch das Gefühl, ich müsse Deutschland verlassen, ich sei hierher verschleppt worden von meinen Eltern. Wie konnten sie nur nach Deutschland gehen? Irgendwann habe ich dann aber eingesehen, dass ich sehr deutsch sozialisiert bin. Ich war daran gewöhnt, dass der Bus pünktlich kommt und Geld für Kultur da ist.

In München habe ich meinen Mann kennengelernt – ganz bewusst einen jüdischen Mann.

Ich komme ja aus einer sehr künstlerischen Familie. Mein Vater hatte nach seinem Überleben im KZ Gedichte geschrieben, die er mit in die Emigration nahm und die 2012 in Tschechien und vor zwei Jahren auch auf Deutsch erschienen sind. Meine Mutter malte und ist heute eine in ihrer Gegend in Bayern sehr bekannte Künstlerin.

SYNAGOGE Und dann habe ich in München meinen Mann kennengelernt – ganz bewusst einen jüdischen Mann. Es war mir sehr wichtig, um den Kindern eine Klarheit zu geben. Und so ist es dann auch gewesen. Also alle drei Kinder sind, nachdem wir nach Berlin umgezogen waren, in die jüdische Grundschule gegangen. Solange meine drei Töchter klein waren, gab es Freitagabend Schabbat in der Synagoge. Wir haben ja die Synagoge Oranienburger Straße aufgebaut, lange bevor die Rabbinerin Gesa Ederberg kam. Wir haben einen lernenden Minjan gemacht, das heißt, wir haben uns selbst befähigt und haben gelernt.

Als bildende Künstlerin arbeite ich viel in Ton. Dabei entstehen Objekte, die man auch benutzt. Zum Beispiel keine Menora, wohl aber eine Chanukkia, denn die wird benutzt, ebenso Kidduschbecher oder Sederteller für Pessach. Verschiedene Sachen von mir werden im Shop des Jüdischen Museums angeboten. Einmal erfuhr ich, dass das Team von Angela Merkel kam und fragte, ob sie irgendetwas nach Israel mitnehmen könnten. Sie haben sich dann wahrscheinlich deshalb für etwas von mir entschieden, weil sie natürlich nicht etwas kaufen wollten, das aus Israel stammte. So hatte die Bundeskanzlerin auf einen Staatsbesuch eine Arbeit von mir als Gastgeschenk dabei. Man hat mir aber nicht gesagt, was es war.

PROJEKT Die Synagoge Fraenkelufer veranstaltete das Projekt LABA, das in New York schon länger existiert. Sie haben jedes Jahr ein Thema, bei dem es um Sichtbarkeit von jüdischer Kultur geht. Nun hatte die Synagoge Fraenkelufer im Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« Fördergelder beantragt und auch genehmigt bekommen. Sie haben aus 110 Bewerbungen acht Stipendiaten ausgewählt – und ich hatte das Glück, dabei zu sein. Das Thema war »Chosen – Auserwählt«.

Verschiedene Tonobjekte von mir werden im Shop des Jüdischen Museums Berlin angeboten.

Wir waren vier bildende Künstlerinnen. Es gab einen Musiker, einen Choreografen und eine non-binäre Person, die aus dem Theaterbereich kommt. Von den acht Leuten waren vier Israelis, zwei Amerikanerinnen, eine Brasilianerin und ich – die Einzige aus Deutschland und die einzige ältere Person. Die anderen waren alle so zwischen 27 und 40. Wir haben drei Monate miteinander sowohl biblische Texte gelesen als auch frische moderne Texte.

Nach den drei Monaten hatten wir noch zwei Monate, um eine künstlerische Arbeit zu entwickeln. Ich habe dort eine Installation gemacht, in der ich 40 kleine Figuren über eine Wand habe laufen lassen. Das heißt, sie waren der Schwerkraft enthoben, alle vereinzelt mit Abstand, wie das in Corona-Zeiten war. Es gab den Klangteppich einer Fußgängerzone. Von Zeit zu Zeit war plötzlich Stille, und ein Spot ging auf eine Figur. Sie war plötzlich auserwählt. Alle paar Minuten war es eine andere Figur, und man hat sich gefragt, warum die und nicht eine andere? Ich habe mich nicht positioniert für oder dagegen, sondern habe das dargestellt, wie es sein könnte, auserwählt zu sein.

FRAUENRECHTE Der 8. März ist 1975 von den Vereinten Nationen als Tag für die Rechte der Frau und den Weltfrieden festgesetzt worden. Gemeinsam mit 110 Performerinnen habe ich im laufenden Jahr eine besondere Aktion initiiert, auf die wir sechs Monate hingearbeitet haben. Dabei stellte sich die Frage: Wie wichtig ist das Anliegen, das man hat, im Angesicht dessen, was weltpolitisch läuft?

Aber ich denke, man muss dort aktiv sein, wo man auch etwas bewirken kann. Die 110 Performerinnen stellten sich um die Neue Nationalgalerie herum, die nach sechs Jahren Restaurierung im vergangenen Sommer wiedereröffnet wurde. Wir haben festgestellt, dass dort nur 14 Prozent der Werke von Künstlerinnen ausgestellt sind. Also viel zu wenig Frauen.

Wir hatten 110 Künstlerinnen herausgesucht, die in jene Epoche passen, die dort gesammelt und ausgestellt wird, also solche, die bis zum Zweiten Weltkrieg schon aktiv waren. Deren Namen haben wir auf T-Shirts gedruckt, welche die Performerinnen während der Aktion trugen.

forderung Sie haben die Neue Nationalgalerie umrundet und sich immer wieder gedreht. So gingen wir von Fenster zu Fenster und stellten die Forderung, sich diese Künstlerinnen einmal anzuschauen. Es war eine beachtliche Zahl an Zuschauern gekommen. Am Ende meiner Rede habe ich sie aufgefordert, die Frauen, die diese T-Shirts anhaben, nach diesen Künstlerinnen zu befragen.

Darunter waren auch jüdische Künstlerinnen wie etwa Charlotte Salomon, die am 10. Oktober 1943 in Auschwitz ermordet wurde. So hatten die Leute, die mitmachten, sich mit jeweils einer Künstlerin auseinandergesetzt. Nun konnte man sich bei ihnen über deren Leben informieren.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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