Ehrung

Man kann einfach etwas tun

Der Enkel des posthum geehrten Ehepaares, Martin Kreyssig (M.), nimmt die Urkunde von Israels Botschafter Jeremy Issacharoff (r.) entgegen. Foto: Rolf Walter

Gertrud Prochownik wollte über ihre Erlebnisse während der Schoa nicht sprechen. Sie winkte ab und erzählte einfach nicht, dass sie während dieser Zeit untergetaucht war. Sie schwieg darüber, dass sie ab November 1944 auf dem Gutshof von Johanna und Lothar Kreyssig untergekommen war, dass sie vorübergehend Hilde Jakobi genannt wurde und nur so die Nazizeit überleben konnte.

Das ist die Erinnerung ihrer Enkeltöchter Jenny und Julie Krausz. Am Dienstag sprachen die beiden über ihre Großmutter und über deren Schicksal. Eingeladen hatte die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), die von Lothar Kreyssig (1898–1986) mitbegründet worden war.

Selbstverständlichkeit Für das Ehepaar Kreyssig sei es eine Selbstverständlichkeit gewesen zu helfen. »Einfach machen« sei Lothar Kreyssigs Motto gewesen, sagte Enkel Martin Kreyssig. In den letzten Kriegsmonaten habe er, den die Nazis als Richter 1942 in den Ruhestand versetzt hatten, etwa 40 Menschen auf seinem landwirtschaftlichen Hof aufgenommen – und hoffte, dass eine Jüdin in dem Gewusel nicht auffallen würde, obwohl der NSDAP-Bürgermeister häufig dort vorbeischaute.

Am Dienstagabend wurde das Ehepaar Kreyssig posthum als »Gerechte unter den Völkern« geehrt. Etwa 200 Gäste, darunter Angehörige aus England und Frankreich, waren eingeladen worden. Die Urkunde überreichte Botschafter Jeremy Issacharoff an den Enkel. »Jede einzelne Geschichte der Gerechten unter den Völkern ist geprägt von großartigem Mut, Rechtschaffenheit und Heldentum«, sagte der Botschafter. Die Rettung zeige, dass es, wo auch immer das Böse ist, auch gute Menschen gebe.

»Das Lebenswerk von Johanna und Lothar Kreyssig ist uns Verpflichtung und Auftrag, umso mehr an einem Tag wie heute, an dem wir sehen und erleben können, wie ihr mutiges Handeln Menschenleben schützte und bewahrte«, so Dagmar Pruin, Geschäftsführerin von ASF. »Man kann es einfach tun« – mit diesen Worten leitete Kreyssig den Aufruf zur Gründung der ASF 1958 ein.

Pflichtbewusstsein Gertrud Prochownik (1884–1982) war mit dem Maler Leo verheiratet, dessen Werke im Keller des Jüdischen Krankenhauses in der Nachkriegszeit gefunden wurden. Er starb, als die gemeinsame Tochter Marianne 17 Jahre alt war. Sie konnte 1939 nach England emigrieren, während Gertrud in Berlin zurückblieb. Ihre Enkeltöchter erfuhren nach ihrem Tod, dass sie eine Möglichkeit gehabt hätte, zu fliehen. »Das lehnte sie aber ab, weil der Jüdische Wohlfahrtsverein, für den sie arbeitete und der Verstecke und Überfahrten für andere Juden organisierte, sie darum bat – sie wurde gebraucht«, sagt Julie Krausz.

Als Prochowniks Situation immer bedrohlicher wurde, nutzte sie ihre Kontakte zur Bekennenden Kirche, deren Mitglieder etlichen Juden halfen. Sie soll schließlich abwechselnd auf zwei Höfen im Havelland untergebracht worden sein, berichtete Martin Kreyssig. So pendelte sie – ohne Papiere und ohne Lebensmittelkarten. Wenige Monate vor Kriegsende blieb sie beim Ehepaar Kreyssig.

Briefkontakt Der Kontakt zwischen dem Ehepaar Kreyssig und Gertrud Prochownik blieb auch später erhalten, sie schrieben sich regelmäßig Briefe. Gertrud zog zu ihrer Tochter nach London, und gemeinsam emigrierten sie nach Australien, wo ihre Enkeltöchter, die Zwillinge Jenny und Julie, zur Welt kamen.

Später ging es wieder zurück nach London. »Sie war eher zurückhaltend, wenn ihr etwas nicht passte, dann biss sie sich auf ihre Lippen«, erinnert sich Julie. »Und sie sprach Deutsch mit uns.« Jede Woche habe sie den »Spiegel« gelesen. In London lernte sie auch den damals 14-jährigen Martin kennen. Heute treffen sich die Familien immer noch. Martin Kreyssig sagt: »Wir haben die Freundschaft unserer Großeltern weitergeführt.«

Forschung

Vom »Wandergeist« einer Sprache

Die Wissenschaftlerinnen Efrat Gal-Ed und Daria Vakhrushova stellten in München eine zehnbändige Jiddistik-Reihe vor

von Helen Richter  14.01.2025

Nachruf

Trauer um Liam Rickertsen

Der langjährige Vorsitzende von »Sukkat Schalom« erlag seinem Krebsleiden. Er war ein bescheidener, leiser und detailverliebter Mensch

von Christine Schmitt  14.01.2025

Porträt der Woche

Keine Kompromisse

Rainer R. Mueller lebt für die Lyrik – erst spät erfuhr er von seiner jüdischen Herkunft

von Matthias Messmer  12.01.2025

Familien-Schabbat

Für den Zusammenhalt

In den Synagogen der Stadt können Kinder und Eltern gemeinsam feiern. Unterstützung bekommen sie nun von Madrichim aus dem Jugendzentrum »Olam«

von Christine Schmitt  12.01.2025

Köln

Jüdischer Karnevalsverein freut sich über großen Zulauf

In der vergangenen Session traten 50 Neumitglieder dem 2017 gegründeten Karnevalsverein bei

 11.01.2025

Vorsätze

Alles neu macht der Januar

Vier Wochen Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Süßes? Oder alles wie immer? Wir haben Jüdinnen und Juden gefragt, wie sie ihr Jahr begonnen haben und ob sie auf etwas verzichten

von Brigitte Jähnigen, Christine Schmitt, Katrin Richter  09.01.2025

Würdigung

»Vom Engagement erzählen«

Am 10. Januar laden Bundespräsident Steinmeier und seine Frau zum Neujahrsempfang. Auch die JSUD-Inklusionsbeauftragte Jana Kelerman ist dabei

von Katrin Richter  09.01.2025

Gedenktag

Uraufführung mit den »Violins of Hope«

Ein besonderes Konzert anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz hat sich das Rundfunk-Sinfonieorchester vorgenommen. Es interpretiert ein Werk für die Geigen, die die Schoa überstanden haben

von Christine Schmitt  08.01.2025

Universität

Preise der »World Union of Jewish Students« in Berlin vergeben

Die weltweite Vertretung jüdischer Studierender hat ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert und besonders verdienstvolle Personen und Verbände ausgezeichnet

 07.01.2025