Sie trug einen roten und am anderen Fuß einen dunklen Frauenschuh mit hohem Absatz. Sie stand im Schnee, stundenlang, halb nackt. Die Kälte spürte sie nicht mehr. Dort – im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort, wo Anne Frank starb. Aber das erfuhr Sara Atzmon erst viel später, als sie schon in Israel war.
Sara Atzmon war bei der Gründung des Staates Israel dabei – ungläubig, dass sie nach dem Grauen der Schoa die Proklamation eines jüdischen Staates erleben würde: Israel. Heute feiert sie den 70. Geburtstag des Landes, das aus ihrer Sicht als Antwort auf die deutsche Nazi-Barbarei entstanden ist.
Vor 70 Jahren hieß Sara Atzmon noch Sara Gottdiener. 1933 wurde sie als 14. von 16 Kindern des orthodoxen Rabbiners und Bäckers Gottdiener und seiner Ehefrau in Ungarn geboren.
Ungarn Elf Jahre alt war Sara Atzmon, als sie im KZ Bergen-Belsen im Schnee stand, doch ihre Kindheit war schon lange vorbei. 1944 wurde die Familie aus Hajdunanas in Ungarn deportiert. Ziel war Auschwitz. Die Nazis wollten auch die ungarischen Juden vernichten und ermordeten binnen fünf Wochen 800.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer.
Der Todeszug, in den Sara mit ihrer Familie eingepfercht war, kam bis zur polnischen Grenze, hielt einige Tage – Tage ohne Wasser, ohne Nahrung, die Notdurft musste im Waggon verrichtet werden. Die Nazis wollten die Juden entmenschlichen.
Plötzlich fuhr der Zug zurück nach Österreich. Die Familie kam in ein Arbeitslager. Völlig entkräftet starb Saras Vater am 11. August 1944 in ihren Armen. Todesursache: Erniedrigung. Zehn jüdische Männer sprachen das Totengebet und begruben ihn – auf einem christlichen Friedhof. 20 Jahre später ließ Saras Mutter ihn nach Israel umbetten.
Im November 1944 kam Sara mit ihrer Familie ins KZ Strasshof. Dann Bergen-Belsen. Im April 1945 befreite die US-Armee das Mädchen, das zwölf Jahre alt war, das Grauen erlebt hatte und nur noch 17 Kilo wog. Doch sie, ihre Mutter und ihre Geschwister hatten überlebt. Ihr Vater, drei ihrer Brüder, vier Cousins und mehr als 50 weitere Familienmitglieder waren ermordet worden. Die U.S. Army ließ ihnen die Wahl, ins britische Mandatsgebiet Palästina weiterzuziehen oder in die USA auszuwandern. Über einen Umweg durch das ehemalige KZ, jetzt Displaced-Persons-Lager Buchenwald, kam die Familie Gottdiener nach einer Odyssee endlich ins Gelobte Land, in das dortige Lager Atlit.
Schule Sara Gottdiener konnte wieder zur Schule gehen, machte eine Berufsausbildung, lernte Sprachen und ging 1951 zur israelischen Armee. Sie lernte Uri Atzmon kennen, heiratete ihn 1954, und das Paar baute in Kfar Sirkin einen landwirtschaftlichen Betrieb auf. Sechs Kinder brachte Sara Atzmon zur Welt. Doch über die Schoa wurde nicht gesprochen. Sie lag wie ein bleiernes Tuch der Vergangenheit über der jungen Familie. Auch die Schuhe, mit denen Sara in Bergen-Belsen stundenlang im Schnee stehen musste, hatte sie nicht aufgehoben. Zu viel Erinnerung.
Eines Tages ging das nicht mehr. Da brachen die grauenvollen Ereignisse der Kindheit wieder auf. Sara Atzmon begann zu malen. Keine Bilder, um sie übers Sofa zu hängen. Sie malte Eisenbahnschienen, die sich zu unüberwindbaren Gittern auftürmen. Monsterschlangen, die sich an Eisenbahnschienen entlangschleimen, Landkarten mit Todeszügen. Zeichnungen von Kindern, die den Teufel austreiben wollen, von schwangeren Frauen, die im Dreck stehen, von Stacheldraht, einstürzenden Häusern, Leichenbergen, von Menschen an der Todesrampe in Auschwitz. Heute ist Sara Atzmon eine der bekanntesten Malerinnen Israels, und ihre Bilder sind nicht nur in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zu sehen, sondern in ganz Europa und den USA.
Sara Atzmon malte sich das Grauen von der Seele und beschloss, ihr Schweigen zu brechen und den nächsten Generationen von der Schoa zu erzählen. Seit 20 Jahren berichtet sie als Zeitzeugin vor allem an Schulen von der Schoa, auch und gerade an deutschen Schulen. Ehemann Uri, dessen Eltern 1935 nach Israel auswanderten, ist stets an ihrer Seite. Erst Anfang Februar erzählte sie Hamburger Schülern von ihren Erlebnissen, und davon, dass »es« nie wieder geschehen darf. Dafür hat sie sich einen roten und einen schwarzen Frauenschuh mit hohem Absatz besorgt. Die stellt sie vor sich aufs Pult und erzählt ihre Geschichte.
ghetto »Ich gehöre zur Kindergeneration der Schoa«, sagt Sara Atzmon bei einem Zeitzeugengespräch in Hamburg. Ende 1941 begann auch in Ungarn der Terror der deutschen Nazis. »Meinem Vater wurde der Bart abrasiert, er war ein stolzer Jude, ein Rabbiner, er hat sich sehr geschämt«, erinnert sich die heute 85-Jährige. »Ich wurde plötzlich von den Mitschülern geschlagen, meine Mutter wurde eine Woche eingesperrt, dann kamen wir in ein Ghetto«, erzählt sie. Immer wieder stockt Atzmon, obwohl sie ihre Geschichte schon oft erzählt hat. Damit die Schüler direkt von ihr, einer Überlebenden, erfahren, was vor mehr als 70 Jahren geschah.
Ihr Vater wurde gezwungen, Schweinefleisch zu essen, damit er »ein besserer Mensch wird«. Bei der Deportation wurden sie mit 100 Menschen in einen Waggon gepfercht, ein Wassereimer, ein Latrineneimer, 24 Stunden Fahrt von Ungarn bis zur polnischen Grenze. »Das war am 24. Juni 1944, Babys starben, Mütter schrien.« Stakkatohaft reiht Sara Atzmon Erinnerungen aneinander.
»Auf den Bahnsteigen marschierten Soldaten in glänzenden Stiefeln. Bei der Selektion bekamen schwangere Frauen ein X auf die Hände. Vielen Menschen wurden Typhus-Viren gespritzt. 3500 Juden wurden während der Transporte von der Bevölkerung mit Mistgabeln und anderen Geräten ermordet. Wir hausten mit 27 Menschen in einem Pferdestall, wurden jeden Tag von den Amerikanern bombardiert, das gab uns Hoffnung. Eine Bäuerin warf uns im Vorbeifahren auf einem Ochsenwagen Brot zu, es gab doch noch Menschen.«
Von ihrer Mutter hat Sara Atzmon gelernt, nicht zu hassen. »Wenn Hass im Kopf ist, kann man nichts Gutes mehr machen.« Und: »Ich kann nur malen, nicht schreiben, denn Wörter sind zu klein, das auszudrücken, was ich erleben musste.« Oft fragen Schüler sie, was sie denn tun könnten, damit »es« nicht wieder geschieht. »Greift sofort ein, wenn ihr Unrecht seht, egal wo, denn Unrecht ist wie ein Feuer – wenn ihr es nicht rechtzeitig löscht, seid ihr verloren.«