Portät der Woche

Magische Momente

»In der Frage nach Gott ist es besser, demütig zu sein«: German Nemirovski (56) aus Reutlingen Foto: Andrej Teshler

In der Sowjetunion, wo ich aufgewachsen bin, habe ich von 1985 bis 1991 angewandte Mathematik studiert. Das Fach Informatik gab es dort nicht, obgleich die angewandte Mathematik sehr viel von dem beinhaltet hat, was hierzulande Informatik heißt. So studierte ich an der Hochschule für Schiffbau im heutigen Sankt Petersburg eine sehr spezielle Anwendung von Mathematik, nämlich die zur Berechnung von Karosserien, Propellern, Strömungen und Ähnlichem.

Seit mehr als 20 Jahren bin ich Professor für Informatik an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. Nebenbei gehe ich bei der Industrie- und Handelskammer in Reutlingen noch einer beratenden Tätigkeit für mittelständische Unternehmen nach. Dabei versuche ich diese zu bewegen, Künstliche Intelligenz (KI) zu nutzen. Gemeinsam suchen wir nach »Use Cases«, also Anwendungsszenarien, und ich zeige ihnen, wie sie auf relativ einfache Art KI nutzen können. Das sind manchmal magische Momente, wenn ich ihnen demonstriere, wie sie geschäftliche Prozesse vereinfachen können.

Da sitzt dann manch erfahrener Unternehmer mit offenem Mund. Oft habe ich zuvor die jeweiligen Use Cases als studentische Aufgaben formuliert, und wenn sie gut gelöst wurden, erhöht das die Vermittlungschancen der Studenten nach ihrem Abschluss. Mir macht es Spaß, mit diesen Sachen zu jonglieren. Es gibt natürlich auch Frustrationen.

Ich versuche bei der Lehre viel zu geben: mein Wissen, meine Erfahrung und auch meine Seele. Wenn es aber bei den Studierenden nicht ankommt und sie sich nicht entsprechend einbringen, dann empfinde ich das als eine Art Niederlage. Es gibt aber auch das Gegenteil: wenn ehemalige Studenten nach Jahren zu mir sagen, dass das Fach, das sie an der Hochschule bei mir belegt haben, sie in der Praxis weitergebracht habe.

Die Biografien meiner Vorfahren sind, wie bei so manchen Juden in der Sowjetunion, recht vielfältig. Väterlicherseits kommen meine Vorfahren aus der Ukraine, mütterlicherseits aus Weißrussland. Und beide Zweige der Familie haben eine Schoa-Geschichte. Ich stand vor einiger Zeit in der ukrainischen Kleinstadt Ternivka an der Stelle, wo ein großer Teil der Familie meines Vaters erschossen wurde. Mein Urgroßvater hat das Massaker auf geradezu abenteuerliche Weise überlebt.

Der Großvater meines Vaters war Schuhmacher

Man hat mir die Geschichte erzählt, als ich ein Junge war. Der Großvater meines Vaters war Schuhmacher, und seine Schuhe, erzählte man mir, seien so berühmt gewesen, dass sie bis nach Paris verschickt wurden. Als die jüdische Bevölkerung am Ortsrand ihr eigenes Massengrab ausheben musste, kam plötzlich ein deutscher Offizier auf dem Motorrad angefahren. Mein Urgroßvater wurde namentlich aufgefordert, sich auf den Boden zu legen, mit dem Gesicht zur Erde. Daneben standen seine Frau und seine hübsche junge Tochter. Sie wurden zusammen mit den anderen Juden des Ortes erschossen, er aber musste in seine Werkstatt zurück, um Stiefel für die deutsche Wehrmacht zu produzieren.

Ich gebe viel bei der Lehre: mein Wissen, meine Erfahrung und auch meine Seele.

Bald darauf gelang ihm die Flucht nach Rumänien. Niemand konnte mir erklären, wie er das angestellt hat, jedenfalls hat er die Schoa überlebt. Das ist nur einer von mehreren Berichten meiner Eltern über den Holocaust in unserer Familie. Im Alter von sieben Jahren war ich mal mit meinem Vater im Zug unterwegs, und als ich ihn fragte, ob wir Juden seien, bestätigte er das. Daraufhin sagte ich: »Das ist schlecht!« Wie kam ich auf so etwas?

Auf dem Hof, wo ich mit anderen Kindern Fußball spielte, wurde jemand, der neben das Tor schoss, als Jude bezeichnet. Nun hatte mein Vater dies also bestätigt, und als ich das nächste Mal danebenschoss, wusste ich zunächst gar nicht, wie ich mich verhalten sollte. In der Folge aber bedeutete das für mich, dass ich besser sein musste als die anderen – und das nicht nur im Fußball. So sah das auch meine Familie, und obwohl ich ein sehr guter Schüler war, schickte man mich zu einem Nachhilfelehrer in Mathe mit dem Ergebnis, dass mir später das Studium an der Hochschule für Schiffsbau nicht besonders schwerfiel.

Während meines Studiums brach die Sowjetunion zusammen. Das Land stürzte in ein enormes Chaos. Ein Freund erzählte mir, dass vor der deutschen Botschaft viele Leute stehen, weil Deutschland offenbar Juden aufnehme. Da bin ich sofort hingefahren und habe einen Antrag gestellt. Das Ganze wirkte wie eine Lotterie, da keineswegs alle Anträge positiv entschieden wurden. Aber mein Name wurde schließlich genannt, und das bedeutete, dass ich mit meiner gesamten Familie ausreisen durfte.

Doch keiner wollte mitkommen. Meine Großmutter sagte: »Wohin willst du? Zu denen, die uns umbringen wollten?« Sie versteckte meinen Pass. Meine Mutter wollte nicht ohne Oma weggehen, und mein Vater konnte nicht ohne meine Mutter. Es war schließlich mein Vater, der es möglich gemacht hat, dass ich allein rauskam. Im Jahr 1992 kam ich in der Bundesrepublik an. Nach einer kurzen Station in Unna kam ich nach Hattingen.

Ich sah das erste Mal eine Synagoge von innen, als ich schon studierte

Ich hatte eine Stelle an der Fernuniversität im benachbarten Hagen bekommen, dort konnte ich promovieren. In Hattingen kam ich in Kontakt mit der jüdischen Gemeinde. Meine Familie hatte, wie viele Familien in der Sowjetunion, ein atheistisches Leben geführt. Ich sah das erste Mal eine Synagoge von innen, als ich schon studierte. Es war an Simchat Tora. Ich blickte mich um, ob ich womöglich gefilmt wurde. Unter Juden fühlte ich mich zu Hause, auch hier in Deutschland, hatte aber dennoch immer eine gewisse Skepsis gegenüber der Religion.

Das änderte sich schlagartig, nachdem meine Mutter gestorben war. Da hatte ich ein paar Erlebnisse, die mich zu einem gläubigen Menschen gemacht haben. Meine Mutter hatte einen sehr harten Kampf gegen den Krebs geführt, und schließlich wünschte die Familie, dass sie endlich erlöst würde. Sie selbst war nie religiös, aber ich schlug meinem Vater vor, mit mir in die Synagoge zu gehen und für ihre Erlösung zu beten. Man kann zwar im Judentum nicht dafür beten, dass jemand stirbt, aber wir haben in der Synagoge einen Mann getroffen, der mit uns Tefillin angelegt hat. Und als wir die Synagoge verließen, bekamen wir einen Anruf, dass meine Mutter gerade gestorben sei.

Bald darauf stand ich an ihrem Grab. Die Beerdigung fand in Russland statt, dort wo sie lebte und starb. Ich habe nicht geweint, das habe ich erst später gelernt. Aber ich weiß, dass ich gezittert habe. Da stand plötzlich eine fremde Frau neben mir, die mich am Arm hielt. Als ich nach vorn ging, um das Kaddisch zu sagen, habe ich mich losgemacht und bat sie, zurückzubleiben. Ich begann mit dem Gebet, da spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Etwas unwirsch habe ich meine Schulter bewegt, doch sie nahm die Hand nicht weg. Und als ich mich verärgert zu ihr umdrehte, stand da niemand.

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich versucht, einmal in der Woche in der Synagoge das Kaddisch zu sagen, und ich wusste, dass ich das auch am Jahrestag ihres Todes tun musste. Der wurde nach dem jüdischen Kalender errechnet. In dieser Zeit habe ich gelernt zu weinen, habe aber nie von meiner Mutter geträumt.

Am Schabbat ging ich zur Synagoge und bat darum, das Kaddisch zu sagen

Nach der Jahrzeit jedoch, deren Tag mir ein Mann in der Synagoge errechnet hatte, fing ich an, von ihr zu träumen. Dann traf ich jenen Mann wieder, der mir das Datum errechnet hatte. Er bat um Entschuldigung, dass er sich verrechnet habe, die Jahrzeit sei erst am nächsten Tag. Da aber reiste ich aus beruflichen Gründen nach Turin.

Am Schabbat ging ich zur Synagoge und bat darum, das Kaddisch zu sagen. So kam ich mit dem dortigen Rabbiner in Kontakt, und er lud mich ein, mit seiner Familie zu essen. In Turin habe ich eine sehr spirituelle Gemeinde kennengelernt. Heute kann ich für mich sagen, dass ich an Gott glaube.

Allerdings bin ich der Meinung, dass sich die Menschen keinen Gefallen damit getan haben, sich ein Bild von dem zu machen, was Gott ist und was er für uns tun will und was nicht. Natürlich verstehe ich, dass Menschen nach Wissen streben, aber in der Frage nach Gott ist es besser, demütig zu sein und zu bekennen, dass man etwas erfahren kann, aber wissen tun wir nichts.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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