Oswald Hess blickt auf ein wechselvolles Leben zurück. Dass er aber überhaupt ein so hohes Alter erreichen konnte, hat er einer dreisten, aber sehr mutigen Lüge seiner Großmutter zu verdanken, die der Familie kurzfristig Schutz bot. Vor Kurzem konnte er seinen 88. Geburtstag begehen.
Als der jüdischen Familie Hess die Deportation drohte, behauptete Großmutter Gertrud Henriette Wolfers gegenüber den Nazi-Behörden, dass ihre am 23. August 1903 geborene Tochter Sigrid nicht die leibliche Tochter ihres jüdischen Ehemannes sei, sondern die Tochter von John Petersen.
Auf ihrer Hochzeitsreise im Oktober 1902 sei ihr Ehemann an Typhus erkrankt, so erklärte die Großmutter den Nazi-Oberen, und sie habe die Gelegenheit zu einem Seitensprung mit John Petersen, einem »Vollarier«, genutzt. Er sei der Vater von Sigrid, allerdings mittlerweile verstorben.
Zeugen Die Gestapo nahm diese Beichte Großmutter Wolfers jedoch nicht ab und forderte Zeugen, zumal auch der Ehemann inzwischen tot war. Die Großmutter lieferte eine Zeugin, an deren Aussage die Nazis kaum zweifeln würden: das NSDAP-Mitglied Martha Brinkmann, eine glühende Hitler-Verehrerin, der die Judenvernichtung allerdings zuwider war.
Martha Brinkmann bezeugte, dass ihre Freundin Henriette ihr den Seitensprung mit einem »reinen Arier« gestanden habe und dass aus dieser Verbindung die Tochter Sigrid stamme. Auch das schien die Gestapo nicht auf Anhieb zu überzeugen. Und doch: Viele Schreiben später glaubte sie der Großmutter.
In letzter Sekunde brachte der Rechtsanwalt der Familie die ersehnte Bestätigung, dass Mutter und Söhne »Halbjuden« seien, und die Familie, die schon den Deportationsbefehl erhalten hatte und sich am nächsten Morgen auf der Moorweide zum Weitertransport zum Hannoverschen Bahnhof einfinden sollte, konnte gerettet werden.
Stadthausbrücke Vorübergehend konnte Oswald Hess den gelben »Judenstern« ablegen und gemeinsam mit seinem Bruder Werner wieder das Eppendorfer Gymnasium besuchen. »Wir hatten von 1941 bis 1943 ein fast normales Leben«, sagt Oswald Hess.
Ab 1943 spitzte sich die Lage zu. Ständig wurde der Vater in die gefürchtete Gestapo-Zentrale Stadthausbrücke befohlen. »Wir wussten nie, ob er wiederkommt«, sagt Hess. Er selbst machte sich nützlich, betreute alte Menschen. Die Angst vor der Deportation wurde verdrängt. 1946 lernte er seine Frau Kathleen in der Tanzstunde kennen. Beide heirateten zunächst andere Partner und kamen erst später zusammen.
Oswald Hess ging nach Südamerika, in Peru stieg er in den Zuckerhandel ein, während sein Vater die Exportfirma weiterführte, die er schon vor 1933 geleitet hatte. Noch bis 1973 führte Oswald Hess die Firma seines Vater weiter, bis sie unrentabel wurde. Er folgte dem Vorbild seines Bruders Werner und wurde ebenfalls Buchhändler in der berühmten Hamburger Buchhandlung Marissal.
Staatsoper Als dem Inhaber des Buchladens an der Staatsoper die Pleite drohte, kaufte Hess ihn auf. »Wir haben verhandelt bis zum Kronleuchter«, erinnert er sich. Sein nächster Coup: Er eröffnete einen Buchstand in der Staatsoper. Wenn dort Aufführungen stattfanden, veranstaltete er auch Signierstunden, beispielsweise mit der Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf und dem Tenor Luciano Pavarotti. »Das war neu und kam beim Publikum sehr gut an.«
Als die Buchhandlung einem Umbau weichen musste, übernahm er die Buchhandlung am Rathaus in Norderstedt. »So kam ich nach Norderstedt – dank meiner Großmutter«, sagt Oswald Hess heute glücklich.
Seine Tante Louise Hess verkraftete die Verfolgung durch die Nazis nicht und nahm sich, als sie den Deportationsbefehl erhielt, am 18. Juli 1942 das Leben. Für sie verlegte Oswald Hess in der Blumenstraße 31a in Hamburg-Winterhude einen Stolperstein.