Er war der »Schuh-König« von Berlin: Julius Klausner, der 1891 gemeinsam mit seinem Onkel, dem Eierhändler Hermann Leiser, das Einzelhandelsunternehmen Leiser-Schuhe gegründet hatte, das bis heute existiert. Aber nach 1933 gerieten auch die 23 Leiser-Filialen ins Visier der SA, sodass Klausner sein Lebenswerk sukzessive veräußerte. Auf diese Weise konnte er der Enteignung entgehen – einem Schicksal, das letztendlich den allermeisten jüdischen Geschäftsleuten widerfahren sollte.
»Die ›Arisierung‹ markierte insgesamt einen der größten Besitzwechsel der neueren deutschen Geschichte«, bringt es der Historiker Frank Bojahr auf den Punkt. Und sie machte keinesfalls vor den Firmen halt, sondern betraf alles, was deutsche Juden ihr Eigen nennen konnten, also auch Wohnungen und Häuser. Im Falle der Klausners handelte es sich sogar um eine äußerst repräsentative Stadtvilla in der Fasanenstraße, die später dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fiel.
SELBSTBEWUSSTSEIN Der Fall der Familie Klausner steht geradezu exemplarisch für das jüdische Großbürgertum in Berlin und seine einzigartige Erfolgsgeschichte, betont Julien Reitzenstein. »Durch enormen Fleiß und harte Arbeit hatte man es zu Ansehen und Wohlstand gebracht«, erklärt der Historiker an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, der auch Berater im Bereich der Provenienzforschung und Gutachter in Restitutionsprozessen ist. »Und dieser soziale Aufstieg spiegelte sich gleichfalls in einem oftmals großbürgerlich-opulenten Lebensstil wider.«
Man zeigte nach außen hin Selbstbewusstsein – und dazu gehörte eben auch eine repräsentative Villa. »Die Grundrisse waren mehr als großzügig, und auf den überlieferten Innenaufnahmen der Gebäude, die sich in jüdischem Besitz befanden, lässt sich gut erkennen, dass es an geschmackvoller und hochwertiger Einrichtung sowie ausgesuchten Gemälden nicht fehlte.«
Genau diesen architektonischen Hinterlassenschaften des jüdischen Großbürgertums in der deutschen Hauptstadt widmet sich Reitzenstein nun mit einem Buchprojekt, das den Titel Steinerne Zeugen in Berlin: 20 geraubte Villen – 20 geraubte Leben trägt. Denn wie auf der eigens eingerichteten Webseite dazu zu lesen ist, gibt es noch einige davon.
»Die Villen der Familie von Simson oder das Anwesen des Kaufhauskönigs und KaDeWe-Gründers Adolf Jahndorf, die Villa des Fabrikanten und Kunstsammlers Richard Semmel, jene des Bankchefs Rudolf Löb, des Fabrikanten Hugo Heymann in Dahlem, des Architekten Erich Mendelsohn in Westend oder des Arztes Alfred Guttmann in Wannsee und viele mehr.«
NEUES BAUEN Die Historie mancher dieser Gebäude wie der Ikone des Neuen Bauens, die Villa des Fabrikanten Richard Kluge, die Wannsee-Villa des Malers Max Liebermann oder die Residenz des Warenhausunternehmers Paul Lindemann sind zwar recht gut dokumentiert, aber nicht als Teil eines kulturellen Ensembles im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Zudem gibt es noch viele undokumentierte Villen des vormaligen jüdischen Großbürgertums. Beides will Reitzenstein mit dem nun begonnenen Projekt ändern.
Es geht um die Geschichte hinter Häusern, Stelen, Stolpersteinen.
»Ich möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, welche Lücken im sozialen Gefüge der Stadt durch die Vertreibung und oftmals auch Ermordung dieses besonderen sozialen Milieus entstanden sind«, skizziert er seine Motive. »Die Verluste sollen sichtbar gemacht werden.«
Das funktioniert einerseits über die publizistische Aufarbeitung des Schicksals ihrer ehemaligen Eigentümer, andererseits durch Plaketten oder Stelen, die vor den Gebäuden auf sie hinweisen und ihre Geschichte erzählen. »Ich sehe in dem Projekt eine Art illustrierte Fortführung der bereits bekannten Stolpersteine«, erklärt Reitzenstein. Es gehe »um die Story dahinter«.
Der Historiker stieß 2014 im Rahmen von Recherchen für ein Buch auf die Dienstvilla des Bundespräsidenten an der Pücklerstraße in Berlin-Dahlem. Einer ihrer früheren Besitzer war der jüdische Kaufmann Hugo Heymann, der das Anwesen schon 1933 auf Druck weit unter Wert hatte verkaufen müssen.
Seit Langem interessierten den Historiker nicht nur die Provenienz geraubter Kunst, sondern auch die Gebäude, in denen sie hing. Beispielsweise machte er 2019 auf die Villa in der Pacelli-Allee aufmerksam, in der sich die opulente Kunstsammlung des Fabrikanten Richard Semmel befand. Heute residiert darin die irakische Botschaft.
TOURO COLLEGE Auch das Touro College Berlin ist seit seiner Gründung 2003 in einer historischen Bauhaus-Villa untergebracht, die der bekannte Architekt Bruno Paul 1928 für die Kaufmannsfamilie Lindemann erbaut hatte. »1935 wurde diese zwangsverkauft und in Staatsbesitz überführt«, sagt Stephan Lehnstaedt. »Sie war daraufhin die Residenz des Reichskirchenministers Hanns Kerrl«, berichtet der Professor für Holocaust-Studien am Touro College.
Nach 1945 konfiszierten die Briten das Gelände und gaben die Villa 1953 an das Land Berlin, das es dann weitervermietete. »Für uns ist die Geschichte dieser Villa eine Verpflichtung«, erklärt Lehn-staedt weiter. »2012 haben ihr meine Kollegen und Vorgänger ein Buch gewidmet. Auch vermitteln wir ihre Geschichte allen unseren Studenten.«
Beamte, die vor 1945 die »Arisierung« betrieben hatten, saßen später im Entschädigungsamt.
Manch einer der ehemaligen Villenbewohner verstarb völlig verarmt. Denn das Thema Restitution ist keine bundesdeutsche Ruhmesgeschichte. Richard Semmel etwa hatte nach dem Krieg versucht, Entschädigung einzufordern. Aber ohne Erfolg – er starb 1950 in New York.
Das Thema Restitution von »arisierten« Immobilien ist ebenfalls kein bundesdeutsches Verdienst. »Es gab den Fall eines Wohnhauses in Köln, das seine jüdischen Besitzer verfolgungsbedingt für einen Bruchteil des Wertes veräußern mussten«, sagt Reitzenstein. »Das Gebäude wurde dann bei einem Luftangriff zerstört. Als seine ehemaligen Eigentümer es in den 50er-Jahren zurückerhielten, sollten sie für die teure Enttrümmerung des Grundstücks selbst aufkommen.«
Beispiele dieser Art gibt es mehrere. »Für die Eigentümer war es oft unmöglich, diese Summen aufzubringen.« Dazu ergab sich ein weiteres Problem. In den Entschädigungsämtern saßen nicht selten genau die Beamten, die vor 1945 die »Arisierung« vorangetrieben hatten.
STÖSSENSEE Für sein Projekt trägt Reitzenstein nur eine kleine Auswahl von Villen zusammen – schließlich lässt sich ihre Gesamtzahl nur schwer einschätzen. »Allein am Stößensee befanden sich gleich fünf repräsentative Villen nebeneinander, die alle wohlhabenden jüdischen Kaufleuten gehört hatten.« Und in vielen anderen Städten wie Hamburg, Frankfurt, Leipzig und Breslau sah es wohl ähnlich aus.
Der Historiker freut sich, im Buch zwischen von ihm recherchierten Villen jenen geschichtsbewussten Eigentümern ein Forum zu bieten, die bereits zu ihrer Villa recherchiert haben. »Vielleicht bekommt man auf diese Weise eine Ahnung von der Dimension des Verlustes, der durch die Vertreibung ihrer Bewohner entstanden ist.«