Die Lothstraße war eines der ersten sogenannten Auffanglager – im Rückblick sogar eines der luxuriöseren im Vergleich zu anderen. Damals jedoch eher ein Albtraum für die meisten, die mit nicht viel mehr als einem Traum ihre alte Heimat verlassen hatten.» Mit diesen Worten erinnerte IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch am 30. September im Gemeindezentrum an die Lebensumstände jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in München vor 20 Jahren.
«Wir alle standen vor einer völlig ungeahnten Situation, und niemand – weder wir hier vor Ort Heimischen noch die Neuankömmlinge – wusste, wohin uns dieser neue gemeinsame Weg führen sollte», fuhr sie fort und bezeichnete die Räumlichkeiten in der Lothstraße als exemplarisch für die widrigen Bedingungen und die vielen Provisorien in dieser von Mangel geprägten Zeit.
Enge Ein kleiner Raum für eine ganze Familie, etwa die Familie Mendelevitch – Eltern, zwei Kinder und die Großmutter. Nicht nur die Enge war bedrückend, die Küchen zum Beispiel mussten sich die Zuwanderer mit vietnamesischen Flüchtlingen teilen. Dazu kam, dass der Verwalterin der Gemeinschaftsunterkunft, die Charlotte Knobloch noch nach zwei Jahrzehnten voller Erregung als «frei von Empathie und augenscheinlich ohne jedes Mitgefühl» beschreibt, «das Gespür für die schwierige Situation der Zuwanderer und ihre besonderen Sorgen und Nöte» fehlte.
Der Kultusgemeinde gelang es schließlich, dass die Unterkunft Lothstraße ausschließlich für jüdische Flüchtlinge zur Verfügung stand und später auch andere Unterbringungsmöglichkeiten gefunden wurden. Zu den Zuwanderern, die damals in der Lothstraße ihre erste Münchner Bleibe gefunden hatten, gehört auch Ariel Kligman mit seiner Familie.
Heute ist der inzwischen erfolgreiche Manager im Vorstand der IKG. Er dankte in seiner kurzen Ansprache all denjenigen, die mitgeholfen haben, dass ein großer Teil der Zuwanderer inzwischen Fuß fassen konnte. Wohnung und Beruf waren dabei wichtige Voraussetzungen. Die Familie Kligman hatte das Glück, dass ihr Sohn mit dem Sohn eines der großen Sponsoren der Gemeinde, Fred Brauner sel. A., zusammen Tennis spielte.
Als Sohn Brauner zu Hause von den Wohnbedingungen seines Freundes erzählte, half Vater Brauner sofort. Er war nicht der Einzige. Viele Gemeindemitglieder unterstützten die Neuankömmlinge – sie luden sie zu sich ein, vermittelten ihnen Wohnungen und Jobs und gaben ihnen menschliche Zuwendung.
Helfer Knobloch hob in ihrer Ansprache besonders Abraham Scher sel. A. hervor, damals Vorstandmitglied der IKG: «Er hat all sein Wissen und seine Menschlichkeit eingebracht, um die Zuwanderer zu betreuen. Sein Wirken in den Jahren der Zuwanderungswellen nach 1989 war unermüdlich. Auf das Beste war er mit den unterschiedlichen Mentalitäten vertraut. Schließlich war er selbst in jungen Jahren von einer Vielzahl an unterschiedlichen Kulturen, Landschaften, Eindrücken und Völkern geprägt worden.»
Dabei kamen ihm seine außerordentlichen Sprachkenntnisse zugute. So hat er sich in ganz unterschiedlichen und vielseitigen Belangen engagiert, sagte Knobloch weiter: «Scher hat sich auch dafür eingesetzt, dass die Neuankömmlinge ihre Haustiere behalten konnten. Nur ein Beispiel von unzähligen, warum seine Hilfe unerlässlich war. Dank seiner Menschlichkeit und Empathie bauten viele Neuzuwanderer von Anfang an ein tiefes und dauerhaftes Vertrauensverhältnis zu ihm und damit auch zur Kultusgemeinde auf.»
Für die IKG waren die Zuwanderer eine große Herausforderung. Die Präsidentin erinnert sich: «Ganze Busladungen waren es, die damals neu zu uns kamen. Familien mit Kind und Kegel und eben Haustieren – aus Russland und der Ukraine und den anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Und wir waren darauf einfach nicht vorbereitet.»
Die Münchner Gemeinde habe weder die personelle noch die finanzielle Ausstattung, geschweige denn die räumlichen Möglichkeiten besessen, um diesen Ansturm zu bewältigen. «Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und unser Wille war stark! Und vor allem: Wo Glaube ist, ist alles möglich. Und unser Glaube war und ist stark und unerschütterlich», betont Knobloch. So sei es gelungen, aus diesem Chaos der Anfangszeit zu geordneten Verhältnissen zu gelangen.
Integration Aus den Kindern von damals sind inzwischen junge Erwachsene geworden, die fließend Deutsch sprechen, studieren, bereits ihren Berufsweg beschritten haben. Drei Generationen waren zu der Feierstunde in den Hubert-Burda-Saal gekommen, drei Generationen, die den Weg nach München nicht bereut haben.
Bei aller Hilfe und Unterstützung waren auch der eigene Mut und das eigene Engagement gefordert, um diesen Weg erfolgreich zu gehen. Boris Mendelevitch erinnert sich, dass er um die 150 Bewerbungen geschrieben hat, um schließlich einen Job als Bauzeichner zu bekommen – für 50 D-Mark mehr als die staatliche Unterstützung. Der Wiedereinstieg ins Berufsleben war ihm das wert – heute arbeitet er als Entwicklungsingenieur bei der Max-Planck-Gesellschaft.
Er hat auch dafür gesorgt, dass seine Kinder studieren konnten. Für seine Tochter, die noch ein halbes Jahr die jüdische Sinai-Schule besucht hatte, klapperte er alle Münchner Gymnasien ab, bis sie schließlich am Gisela-Gymnasium zunächst für ein halbes Jahr zur Probe aufgenommen wurde. Doch schon mit dem ersten Halbjahreszeugnis und einem Jahr Deutschunterricht war sie dort fest integriert.
Die Familien Kligman und Mendelevitch sind nicht die einzigen Erfolgsgeschichten aus der Lothstraße. «Die Eingliederung in die jüdische Gemeinde und die Gesamtgesellschaft ist gelungen», freut sich Knobloch, stellt aber zugleich selbstkritisch fest, «dass wir nach wie vor einige Herausforderungen zu meistern haben. Aber wir sind auf dem richtigen Weg! Wir sind eine Gemeinde. Ich wünsche mir, dass der Unterschied zwischen Alteingesessenen und Neuzuwanderern, der unter den jüngeren ohnehin kaum noch existiert, auch unter den älteren Generationen bald keine Rolle mehr spielt. Ich wünsche mir, dass wir das Gefühl der Geschlossenheit von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr und von Generation zu Generation mehr spüren und mehr leben. Und ich wünsche mir, dass wir uns öfter auf die Erfolge besinnen und auf die großen Errungenschaften der letzten Jahre.»