Antisemitismus

»Limitiertes Verständnis«

Das Thema Antisemitismus an den Hochschulen ist derzeit omnipräsent. Wie war die Situation vor dem 7. Oktober 2023?
Friederike Lorenz-Sinai:
Antisemitismus war schon vorher ein Alltagsphänomen an den Hochschulen: Es gab antisemitische Diskurse, Veranstaltungen und auch Übergriffe, die das Sicherheitsgefühl von jüdischen Studierenden und anderen Hochschulangehörigen bedroht haben. Das wurde aber zuvor kaum öffentlich als Problem verhandelt und diskutiert. Aktuell verändert sich das zunehmend. Antisemitismus an Hochschulen wird in sozialen Netzwerken rege debattiert, spezialisierte Beratungsstellen wie OFEK bieten breiter als vorher angeleitete Empowerment- und Beratungsräume an, und es gibt neue Formen der Selbstorganisation, wie beispielsweise das von Julia Bernstein mitgegründete Netzwerk jüdischer Hochschullehrer in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Marina Chernivsky: Es gibt in der Tat viel Bewegung in dem Feld. Das Beratungsaufkommen steigt rapide an. Bei den Beratungsanfragen von Studierenden, die bei OFEK eingehen, zeigt sich eine neue Quantität und Qualität der Vorfälle. Gleichwohl ist nichts davon wirklich neu. Die Hochschule ist seit jeher ein Austragungsort von Antisemitismus. An Hochschulen konkretisiert sich die Geschichte dieses Landes mit seinen Institutionen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Und die Hochschule ist nicht zuletzt ein Ort, wo antisemitische Ideologien Platz finden: Es gibt historisch gewachsene Leerstellen in den einzelnen Disziplinen und eine unzureichende Repräsentanz jüdischer und israelischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Bereits vor dem 7. Oktober haben Sie Verantwortliche aus den Hochschulen zum Thema beraten. Diese Zusammenarbeit hat sich ausgeweitet und intensiviert. Was fällt Ihnen dabei auf?
Chernivsky:
Eine Sache, die uns besonders auffällt, ist, dass – neben positiven Beispielen – viele Hochschulleitungen nicht auf die Auseinandersetzung mit Antisemitismus vorbereitet scheinen. Zugleich bekommen sie viel Druck von verschiedenen Seiten im Kontext der Frage, wie der Terror gegen Israel durch die Hamas und der Krieg in Gaza verhandelt wird. Das äußert sich dann in unklaren Statements, in ausbleibenden Positionierungen oder in dem Versuch, das Thema auszusitzen. Schutzmaßnahmen und Bildungsangebote werden nur zögerlich ergriffen, als würde das Problem erst durch die Ergreifung dieser Maßnahmen entstehen. Das ist eine ganz spezifische Dynamik, die gerade an vielen Hochschulen zu beobachten ist und die darauf zurückzuführen ist, dass das Problem schon vorher da war, aber innerhalb von Hochschulen systematisch übersehen wurde.
Lorenz-Sinai: Es fällt auf, wie brüchig und limitiert das Antisemitismusverständnis im Vergleich zu anderen Machtverhältnissen ist. Es wird nicht als Machtverhältnis verstanden oder – was mitunter von den Verantwortlichen auch so offen ausgesprochen wird – überhaupt nicht als Form der Diskriminierung. Daher findet es auch keinen Eingang in die bestehenden Antidiskriminierungsansätze. Der Antisemitismus wird an Hochschulen stattdessen oft politisiert oder als eine Meinung, als etwas theoretisch Abstraktes verhandelt. Es gibt auch die Tendenz, den Antisemitismus ausschließlich in einem symmetrischen Verhältnis zum Rassismus zu denken, indem etwa die Hochschule gleichzeitig als ein Raum ausgerufen wird, an dem es »keinen Antisemitismus und Rassismus« geben dürfe. Oder er wird einer Quantifizierungslogik unterworfen und in Konkurrenz zum Rassismus gesetzt, wenn gesagt wird, dass der antimuslimische Rassismus stärker verbreitet sei, und daraus abgeleitet wird, sich weniger um den Antisemitismus kümmern zu müssen. Doch Antisemitismus vergiftet auch dann die Räume und sozialen Diskurse, wenn es keine unmittelbaren Interaktionen gab, bei denen Einzelne bedroht wurden: Durch seine schematischen Feindbilder bietet er problematische Weltdeutungen an.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der Hochschulen?
Chernivsky:
Die Anfragen von Leitungen, Gleichstellungsbeauftragten oder Lehrbeauftragten beziehen sich mitunter darauf, dass sie überrascht und unvorbereitet sind und dass sie mit dieser Dichte an offenem Hass nicht umgehen können. Sie erzählen, dass sie bis zum 7. Oktober nicht wussten, dass es so etwas gibt. Es ist die vertraute Form der Realitätswahrnehmung, in der es keinen Antisemitismus – zumindest nicht in den eigenen Reihen – gibt. Erst aufgrund dieser Dichte werden sie aufmerksamer, fürchten Skandalisierungen und melden sich daher aktiv bei uns. Manche Beratungen verliefen so, dass wir die Hochschulen von uns aus mithilfe von einordnenden Stellungnahmen angeschrieben und darum gebeten haben, sich auf das Thema zu fokussieren. Einige Hochschulen waren dankbar dafür und haben sich bereit erklärt, sich einem kritischen Prozess von Reflexion und Awareness zu unterziehen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Chernivsky:
Wir beraten Stabsstellen, Leitungsrunden sowie Hochschullehrer und schulen Mitarbeitende von Kommunikationsabteilungen von Hochschulen. Diese sind manchmal nach einem Vorfall am Wochenende gefordert, ein schnelles Statement zu verfassen. Auch in diesen Abteilungen ist das Wissen über Antisemitismus eingeschränkt. Einige denken vielleicht: »Es ist ja nur ein Post.« Aber solche Posts werden von jüdischen Studierenden sehr genau gelesen und als Sprache aufgefasst, die für eine innere Haltung steht. Sprache ist verräterisch. Alles, was nachkorrigiert wird, wird nicht mehr ernst genommen. Wenn nach einem Vorfall die Unileitung ein nichtssagendes Statement veröffentlicht, kann das als eine Form der Verweigerung von Anteilnahme und als Indiz eines verqueren Antisemitismusverständnisses gedeutet werden. Das stört das Vertrauen, was ohnehin schon brüchig ist, ein weiteres Mal. Das heißt, es gibt jüdische Studierende, denen vielleicht noch nichts passiert ist, die aber sehr genau wahrgenommen haben, dass sie in einem Umfeld leben und lernen, in dem man ihnen die Solidarität verweigert.

Wenn sich die Hochschulen auf eine Beratung eingelassen haben, was folgt aus diesem Prozess?
Chernivsky:
Wir sind derzeit mit einigen Hochschulen dabei, Sprechstunden für Studierende und Lehrende anzubieten, Fortbildungen, Fachveranstaltungen und Ringvorlesungen zu organisieren, Schutz- und Sicherheitskonzepte zu entwickeln, die bei Antisemitismus greifen und jüdische Studierende im Blick haben. Es ist aber nicht nur die Frage, noch mehr Konzepte zu etablieren, sondern an der Haltung der Institution zu arbeiten und auch mit den Widerständen der Beteiligten umzugehen. Denn es ist nicht so, dass sich alle einig sind und nur darauf warten, zu Antisemitismus geschult zu werden.
Lorenz-Sinai: Was Hochschulen charakterisiert, ist, dass sie besonders hierarchisch und von Machtverhältnissen durchzogen sind, zugleich sind sie aber zu großen Teilen selbstverwaltet. Daher ist die Aufgabe der Leitung so wichtig. Die Leitungen müssen den Schutz und das Wirken gegen Antisemitismus als eine institutionelle Querschnittsaufgabe verstehen, für die sie sich zuständig erklären und für die sie Ressourcen bereitstellen müssen.

Die bekanntesten Fälle, wie der Angriff auf Lahav Shapira, eine Hörsaalbesetzung oder öffentlichkeitswirksame Protest- und Störaktionen, haben sich bisher an Berliner Universitäten abgespielt. Handelt es sich um ein Großstadtphänomen?
Lorenz-Sinai:
Das ganze Ausmaß an antisemitischer Sprache, die momentan um sich greift und normalisiert wird, findet sich auch an jenen Hochschulen, die nicht durch physische Übergriffe oder Protestaktionen bekannt geworden sind. An vielen Hochschulen gab es Debatten rund um Solidaritätserklärungen, um Plakate für die israelischen Geiseln, die beschädigt wurden. All das findet sich an Hochschulen deutschlandweit. Wir können aber noch keine validen Zahlen nennen, da antisemitische Übergriffe an Hochschulen bisher nicht systematisch erfasst werden, Studien dazu fehlen und gerade erst entstehen.

Zuletzt drehte sich die öffentliche Debatte stark um die Frage, ob antisemitische Täter exmatrikuliert werden dürfen. Einige Landeshochschulgesetze sehen diese ordnungsrechtliche Maßnahme vor, in Berlin wurde sie vor wenigen Jahren abgeschafft, weshalb gerade eine Wiedereinführung diskutiert wird. Was halten Sie von dieser Möglichkeit?
Lorenz-Sinai:
Ich finde die Fokussierung der Debatte darauf schwierig, weil ein großer Teil antisemitischer Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegt. Zugleich ist diese Fokussierung exemplarisch für die Art, wie auch Antisemitismus verhandelt und diskutiert wird: nämlich als außergewöhnlicher Vorfall, limitiert auf den extremen physischen Übergriff, und weniger als Struktur, als alltägliche Praxis, die Menschen bedroht, ihre Lebensentwürfe beeinträchtigt und Räume einschränkt.
Chernivsky: Es ist eine harte Maßnahme, aber sie schafft vielleicht gerade für Gewalt­opfer eine Art Gerechtigkeit. Nicht jeder Fall ist eindeutig. Aber es gibt Fälle, wo das Täter-Opfer-Verhältnis relativ klar ist. Denn beim Thema Antisemitismus befinden wir uns dauerhaft in der Schleife der Täter-Opfer-Umkehr. Diese Debatte darf aber keine Übersprungshandlung sein, indem davon ausgegangen wird, dass damit das Problem aus der Welt geschafft ist.

Marina Chernivsky ist Geschäftsführerin der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e.V. und Leiterin des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung. Friederike Lorenz-Sinai ist Professorin und dezentrale Gleichstellungsbeauftragte an der FH Potsdam sowie Vorstandsmitglied von OFEK e.V.

Mit den Wissenschaftlerinnen sprach Martin Brandt.

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