Yael Deckelbaum und ihre Band »The Mothers« betreten die Bühne der Peterskirche in Erfurt. Es ist Simchat Tora. Zugleich ist es aber auch der Tag des brutalen Mordens der Hamas. Soll Deckelbaum wirklich singen? Ja, beschließt sie für sich. Jetzt erst recht.
Drei Tage vor ihrem Konzert in Erfurt hatte die Musikerin sich noch mit israelischen und palästinensischen Frauen am Toten Meer getroffen, um gemeinsam über den Frieden zu sprechen und zu singen. »Prayer of the Mothers«, das Gebet der Mütter für den Frieden, ist seit Jahren ihre Hymne.
An diesem Abend in der Peterskirche soll es der erste Titel ihres Konzerts sein, und zwar gemeinsam gesungen mit dem Publikum. Sie alle tragen es vor, voller Inbrunst und tief bewegt, was offensichtlich den Ereignissen des Tages geschuldet war: »Bring uns Frieden«. Es ist eine kraftvolle Solidarität, die die Besucher des Konzerts so zum Ausdruck bringen. Bis dato hat Deckelbaum noch nie ein Konzert so ernst beginnen müssen. »Heute ist Krieg. Mein Magen schmerzt«, sagt sie.
Als Friedensaktivistin ist Yael Deckelbaum hoch gefährdet
»Es ist furchtbar, es ist ein Drama.« Ihre Gedanken sind bei den Kindern und Müttern, aber auch bei den Soldaten. »Ich bete für die Menschheit.« Noch weiß sie nicht, dass sie vorerst nicht nach Israel zurückkehren kann. Die Familie, die Freunde haben sie gewarnt, weil sie als Friedensaktivistin hoch gefährdet sei. Die Hamas würde versuchen, sie zu entführen oder zu ermorden. Oder beides.
Auch die anderen beiden Friedenslieder, dank derer sie sogar in Thüringen seit Jahren populär geworden ist, singt das Publikum mit. »Women of the World Unite« und »War is not a Woman’s Game« lassen die Energie erahnen, die notwendig scheint, um an die Kraft von Frauen in Israel, der Ukraine und im Niger zu appellieren.
Denn Mitstreiterinnen von Yael Deckelbaum in diesen Ländern sind dank Zoom zugeschaltet. Für Reinhard Schramm, den Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, ist das Konzert ein wichtiger Anlass, dem Frieden mehr Gehör zu verschaffen. »Seit 75 Jahren braucht der Nahe Osten Frieden und hat ihn bis heute noch nicht.« Er hoffe, dass die Annäherung der vergangenen Jahre zwischen Israel und den arabischen Staaten durch die aktuellen Ereignisse nicht gefährdet werde.
Mitten im Konzert ist auch Martin Kranz, Intendant der jüdisch inspirierten Achava Festspiele. »Achava«, das heißt so viel wie »Geschwisterlichkeit«, erklärt er und betont: »Das hätten auch wir sein können.«
Mit dem »wir« meint Kranz zum einen die Menschen, die während eines Musik-Festivals nahe des Gazastreifens ermordet wurden. Und er denkt auch an die Achava Festspiele, die noch bis zum 22. Oktober in ganz Thüringen stattfinden. Eigentlich sollte der arabische Israeli Nihad Dabeet ebenfalls nach Erfurt kommen und über seinen Paradiesbaum aus Kupfer und Stahl sprechen.
Aber ob er es wirklich von Haifa nach Deutschland schaffen wird, ist ebenso ungewiss wie die Anreise von Naftali Fürst, dem Präsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald. Auch er lebt in Haifa. Am Sonntag wird er in Deutschland erwartet. »Wir wissen aber nicht, was passiert«, betont Kranz. Und auch die anderen israelischen Künstlerinnen und Künstler, Holocaust-Überlebenden und Philosophen aus Israel wissen nicht, ob und wann sie reisen werden.
Eine verbindliche Zusage für die Veranstaltungen des Festivals sei kaum möglich, sagt Kranz. Allerdings ist er sich sicher, dass es trotzdem stattfinden wird. Über zweieinhalb Wochen sind 53 Veranstaltungen in Erfurt, Weimar, Eisenach und Gotha geplant. Viele Kulturschaffende sind eingeladen, darunter Avi Lubin aus Tel Aviv.
Seit 2015 gibt es das jüdisch-interkulturelle Festival
Seit 2015 gibt es das – so eine Selbstbeschreibung – jüdisch-interkulturelle Festival, das sich dem interreligiösen Dialog auf vielfältige Weise verschrieben hat. Dafür soll es auch in diesem Jahr zahlreiche Formate, darunter Zeitzeugengespräche, Ausstellungen sowie Schülerforen, geben – und natürlich Musik. Und hier schließt sich wieder der Kreis zu Yael Deckelbaum, die schon zum dritten Mal bei Achava zu Gast ist und der es trotz des Überfalls der Hamas auf ihre Heimat gelang, sich in Erfurt von ihrer leisen, künstlerischen Seite zu zeigen, und das auf eine Weise, die Frieden geben kann, wie sie erklärt. Einen Frieden, den ihre Seele und Israel momentan verloren haben.
Dass es ihr dennoch an diesem sehr besonderen Abend gelingt, das Publikum und auch sich selbst für einige Momente von den Grausamkeiten abzulenken, scheint für alle eine wichtige Erfahrung zu sein, um einmal kurz durchzuatmen. Es sind nur Momente, Augenblicke. »Es gibt kein Wort, das den Terror wirklich beschreiben kann«, betont die Musikerin. »Mein Neffe ist Soldat. Ich weiß nicht, wo er ist.«
Dass Yael Deckelbaum während der Achava Festspiele bejubelt wird, ist nichts Ungewöhnliches. Neu aber ist die Intensität, mit der das Publikum sie unterstützt. Und es stimmt, was sie zu Beginn des Konzerts gesagt hat: »Das Leben wird nicht wieder dasselbe sein.« Und das nicht nur, weil sie derzeit nicht nach Israel zurückreisen kann.