Viele unserer Freunde, die wie wir aus Ungarn nach Deutschland ausgereist sind, haben ihren jüdischen Glauben dort gelassen. Sie haben nichtjüdische Frauen geheiratet und feiern Ostern und Weihnachten. Mein Mann und ich fragen uns, warum feiern sie dann nicht auch Chanukka und Pessach? Wir finden das sehr traurig. Als wir – mein Mann, unsere beiden Töchter und ich – 1979 von Budapest nach Stuttgart kamen, ist er mit einer von ihnen gleich am nächsten Tag in die Synagoge gegangen und hat sich dort vorgestellt. Die Gemeinde hatte damals nicht so viele Mitglieder wie heute. Aber wir haben uns gleich wohlgefühlt. Arno Fern, der Geschäftsführer, nahm uns freundlich auf, die Familien luden uns sofort zu Besuchen in den zoologisch-botanischen Garten »Wilhelma« und zu anderen Treffen ein. Als Jude brauchst du nicht allein zu sein – das haben wir stark empfunden. Das war für uns absolut wichtig. Und bleibt es auch.
Ich wurde in Budapest geboren. Meine Mutter Rózsi Delly war eine sehr bekannte Opernsängerin an der Ungarischen Staatsoper. Sie sang alle großen Wagner-Rollen und arbeitete mit Otto Klemperer, Wolfgang Windgassen, Miklós Lukács und vielen anderen berühmten Dirigenten zusammen. Budapest zog damals genauso viele Wagnerianer an wie Bayreuth. Durch Gastspiele in Paris, London, Brüssel, Bayreuth und anderen Musikmetropolen hatte sie auch international einen Namen. Als Tochter von Rózsi Delly, die dann auch Gesang an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest studierte, war ich natürlich in der Gesellschaft bekannt. Ich war gerade 19 geworden, und irgendjemand meinte, es sei an der Zeit, einen jungen Mann kennenzulernen. Und er sollte natürlich jüdisch sein. So wie ich mich erinnere, war der Versuch einer Verkupplung eine sehr komische Geschichte. Denn ich bin inzwischen 54 Jahre mit Zoltan Vamosi verheiratet, wir haben vier Kinder und fünf Enkel. Und bald wird ein sechstes Enkelkind unsere Familie komplettieren.
OPERNHAUS Jedenfalls sang meine Mutter damals im Budapester Opernhaus die Hauptrolle in der Oper »Die Königin von Saba«. Ich besuchte auch diese Vorstellung, und in der Pause wurde mir ein junger Mann vorgestellt. Er war der Sohn einer Freundin meiner Mutter. Ich war sehr reserviert. Später kam der Vorschlag, zu dritt in eine Gemäldeausstellung zu gehen. Der Dritte hieß Zoltan und war ein Freund des jungen Mannes. Aber der Zoltan ist nicht erschienen – und der Ausstellungsbesuch wurde zu einem Desaster. Ein andermal sollte ich mich dann allein mit Zoltan treffen. Er kam, sagte aber, er müsse gleich weiter zu einer Bridgeparty, aber er bringe mich noch zum Bus. Es war sehr kalt, und ich war konsterniert. Doch am nächsten Tag rief er mich an und fragte, ob ich schon einen Freund habe. Ich war ein bisschen beleidigt, aber er ließ nicht locker. Schließlich lud ich ihn zu einem privaten Gesellschaftstreffen ein, bei dem er sich ans Klavier setzte. Er kann sehr gut Klavier spielen. An diesem Abend fragte mich Zoltan, ob ich ihn heiraten will. Ich hab das nicht ernst genommen, aber es entwickelte sich eine Beziehung zwischen uns.
Wir standen unter der Chuppa – und am nächsten Tag hatte ich eine Generalprobe.
Rószi war die Person in unserer Familie, die den Ton angab. Also hielt Zoltan bei ihr um meine Hand an. Mein Vater hat geweint, weil er nun seine Tochter hergeben sollte. Und wir waren beide noch Studenten – Zoltan studierte Medizin. Rószi entschied pragmatisch und sagte zu ihm: keine Ehe ohne Diplom. Dann kamen zwei große Tage, wir waren beide very busy. Am Erev Schabbat standen wir unter der Chuppa. Am nächsten Tag schon hatte ich eine Generalprobe im Theater, Zoltan hatte seine Diplomprüfung – eine große Sache –, danach gab es die standesamtliche Eheschließung im Rathaus, und abends fand die Premiere in der Oper statt. Anschließend fuhren wir mit dem Nachtzug an den Balaton. Das war der Beginn unserer Hochzeitsreise.
Gleich nach der Hochzeitsreise musste mein Mann zur Armee – Bürgerpflicht in Ungarn. Zum Glück konnte er sich als Arzt in einer Budapester Klinik registrieren und über Nacht zu Hause bleiben.
Später legte Zoltan die Facharztprüfung als Hals-Nasen-Ohren-Arzt ab und promovierte. Eigentlich war es die Idee meiner Mutter, dass Zoltan das HNO-Fach wählte. Sie war Sängerin, ich sollte Sängerin werden, und sie meinte, es wäre gut, wenn wir einen HNO-Arzt in der Familie hätten. Ihre Empfehlung erwies sich bis heute als richtig. Dann hatte ich also ein Engagement als Koloratursopranistin und Solistin an der Budapester Oper. Ich erinnere mich: Ich hatte wie alle Künstler ordentlich Lampenfieber. Nur das Publikum durfte es nicht merken.
LIEDGESANG Mit Peter Schreier hab ich zum Beispiel in Mozarts Oper »Die Entführung aus dem Serail« gesungen. Ich habe mir ein breites Repertoire erarbeitet, davon ließ ich auch nicht ab, als wir unsere beiden Töchter bekamen. Der Alltag war mit der Unterstützung der Großmütter und Haushaltshilfen durchgetaktet. Zehn Jahre ging das so, auch mit Auftritten im Ausland. Ob man in Budapest jüdisch leben konnte? Das war kein Problem. Koschere Lebensmittel gab es, der Synagogenbesuch wurde einem nicht verwehrt. Nur früher in der Grundschule, da haben sie mich gemobbt, weshalb ich die Schule wechselte.
In Stuttgart fühlten wir uns nicht nur in der Gemeinde gut aufgehoben. Wir fanden auch beruflich unseren Platz. Ich hatte regelmäßige Engagements, auch als Interpretin für Liedgesang. Außerdem umfasste mein Diplom-Studienabschluss in Budapest auch den Bereich Stimmbildung und Gesangspädagogik. Nachdem ich mit den großen Opernauftritten aufgehört hatte, begann ich also, Gesangsunterricht zu geben. Mein Mann hat mich in all den Jahrzehnten immer dabei unterstützt. Und das, obwohl auch er beruflich sehr erfolgreich war. 1979, als wir nach Stuttgart kamen, bewarb er sich mit seinem Facharztabschluss als Hals-Nasen-Ohren-Arzt im »Olgäle«, der Kinderklinik in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Später hatte er seine eigene Praxis. Und wir bekamen nach den Töchtern noch zwei Söhne. Allen vier Kindern haben wir die Liebe zur Musik weitergegeben. Sie erspielten sich viele Preise bei »Jugend musiziert« mit dem Cello, mit Blasinstrumenten und Schlagzeug. Und unsere Enkel musizieren auch und waren ebenfalls bereits Preisträger bei »Jugend musiziert« und dem Karl-Adler-Jugendmusikwettbewerb.
Im Andenken an Rózsi Delly stiftet unsere Familie jedes Jahr den Rose-Delly-Sonderpreis bei diesem Jugendmusikwettbewerb. Wir machen oft Hausmusik. Die Enkel spielen Blasinstrumente und Schlagzeug. Mein Mann sagt immer lachend: Wir haben so viele Noten für Klavier und Streichinstrumente, und die Enkel können damit nichts anfangen. Sein Traum war immer, dass unsere Kinder in Orchestern musizieren können. Das tun sie auch. Ich selbst bin von Anfang an Jurymitglied beim Karl-Adler-Jugendmusikwettbewerb. Es ist fantastisch, die jungen Talente zu hören und sie mit Ratschlägen zu fördern. In unserem langen Leben haben wir eine umfangreiche ungarischsprachige Sammlung von Weltliteratur zusammengetragen. Wir würden sie gern in gute Hände geben, wissen aber bisher nicht, in welche.
Wir fahren immer mit großer Freude nach Budapest. Dort treffen wir uns mit guten alten Freunden. Und wir erleben das ausgeprägte Kulturleben auf sehr hohem Niveau. Die natürliche Schönheit Ungarns, die Küche und der meist höfliche Service sind unverändert gut. Besonders aufregend und erlebnisreich sind die Treffen mit meinen ehemaligen Kollegen. Und die Besuche an meinen früheren Wirkungsstätten, dem Opernhaus, im Rundfunk, in der Musikakademie und in Konzertsälen. Dann bin ich dort und erinnere mich an den Beginn meiner Karriere, an meine Lieblingsrollen wie die Gilda aus Verdis »Rigoletto«, die Lucia aus Donizettis »Lucia di Lammermoor«, die Konstanze aus Mozarts »Entführung aus dem Serail«, die Königin der Nacht aus Mozarts »Zauberflöte«, die Zerbinetta aus Richard Straussʼ »Ariadne auf Naxos«. Ich habe viele Preise gewonnen.
FAMILIENSINN Unsere vier Großeltern waren alle Juden. Die Väter wurden in Konzentrationslager deportiert. Unsere Mütter haben sich mit uns Kindern und gefälschten Papieren versteckt und wurden so gerettet. Und uns Nachfahren der Überlebenden haben Musik, Jüdischkeit, Familie und Freunde immer zusammengehalten. Doch nicht nur die Musik und den Familiensinn gaben wir an die nächsten beiden Generationen weiter, auch die Religion. Deshalb fahren wir gleich zu einem unserer Enkel und befestigen eine Mesusa an seiner Wohnungstür.
Unsere alltägliche Freude ist wegen des terroristischen Angriffs auf Israel sehr gedämpft. Wir haben mehrere Verwandte in Israel, auch junge Leute. Sie alle hatten friedliche Pläne, anstatt an einem furchtbaren Krieg zur Verteidigung Israels teilzunehmen. Wir hoffen sehr, dass der Krieg möglichst bald vorbei ist und die Einwohner Israels, Juden und Araber, einen Weg finden, friedlich zusammenzuleben.
Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen