Interview

»Leuchtturm der Stadt«

Barrie Kosky über sein Judentum, die jüdische Geschichte der Komischen Oper Berlin und die Frage, was die Kürzungen im Bauetat für das Haus bedeuten

von Christine Schmitt  05.12.2024 10:09 Uhr

»Die Politiker wissen, dass ein Baustopp die Sanierungskosten in die Höhe treibt«: Barrie Kosky, ehemaliger Intendant der Komischen Oper Foto: Jan Windszus Photography

Barrie Kosky über sein Judentum, die jüdische Geschichte der Komischen Oper Berlin und die Frage, was die Kürzungen im Bauetat für das Haus bedeuten

von Christine Schmitt  05.12.2024 10:09 Uhr

Der Berliner Senat möchte im kommenden Haushaltsjahr drei Milliarden Euro einsparen. Nun ist bekannt geworden, dass auch die legendäre Komische Oper von den Sparmaßnahmen betroffen sein wird, indem die bereits begonnene Sanierung gestoppt wird. Derzeit ist das Opernhaus im Übergangsquartier im Schillertheater untergebracht.

Herr Kosky, Sie haben auf der Homepage der Komischen Oper einen Appell an Berlins Regierenden Bürgermeister, den Finanz- und den Kultursenator veröffentlicht, der mit dem Satz schließt: »Beenden Sie nicht, was die Nazis begonnen haben.« Wie ist das zu verstehen?
Ich habe versucht, die Geschichte des Hauses darzustellen, damit Politiker begreifen, dass die Komische Oper kein beliebiges Opernhaus ist. Vor der Nazizeit war sie in Deutschland die erste Adresse für Operette und Revue, wo zahlreiche jüdische Künstlerinnen und Künstler, Komponisten, Dirigenten, Sängerinnen und Sänger gewirkt haben. Sie war der Leuchtturm von Berlin. Von 1900 bis 1933 war ihre Geschichte jüdisch geprägt. Bisher war ein wichtiges Kapitel der jüdischen Geschichte von Berlin in diesem Haus präsent.

Darunter waren auch die jüdischen Produzenten Alfred und Fritz Rotter. Letzterer hat viele bekannte Schlager geschrieben, darunter auch »Veronika, der Lenz ist da«. Was zeichnete die beiden Brüder aus?
Sie waren bedeutende Produzenten, denn sie haben neun Häuser in Berlin geleitet und eine neue Theaterlandschaft für das 20. Jahrhundert entstehen lassen. Das Haus an der Behrenstraße wurde zum wichtigsten Operetten- und Revuetheater in ganz Deutschland. Die beiden waren auch visionär. 1933 wurden sie aus Berlin vertrieben. Die größten jüdischen Operettenkomponisten des 20. Jahrhunderts haben allesamt an diesem Haus gewirkt: Leo Fall, Paul Abraham, Oscar Straus, Emmerich Kalman und ihre fast ausschließlich jüdischen Librettisten. Auch die größten Stars der deutschsprachigen Operette waren jüdisch. Beispielsweise Richard Tauber, Fritzi Massary, Gitta Alpar, Rosy Barsony – sie standen in der Komischen Oper auf der Bühne. Die jüdischen und die deutschen Künstler erfanden gemeinsam das Musiktheater neu.

Ohne die Brüder Alfred und Fritz Rotter hätte die Theaterlandschaft nicht so eine Entwicklung genommen?
Ganz recht. Berlin war vor dem Zweiten Weltkrieg wie New York. Der Broadway ist undenkbar ohne Juden. Eigentlich ist er eine jüdische Erfindung. Und dann kommt 1933. Dieses wunderbare Moment in der Berliner Geschichte ist weg. Über Nacht.

Offenbar soll die Sanierung der Oper den Sparmaßnahmen zum Opfer fallen. Inwiefern würde die schwarz-rote Regierung das Haus damit in Schwierigkeiten bringen?
Ich schreibe in meinem Appell, dass wir in einer Zeit leben, in der dieses Haus genauso gefährdet ist wie 1933. Meine Wut ist groß, denn erst kürzlich wurde die Antisemitismus-Resolution im Bundestag verabschiedet. Darin wird auch die Notwendigkeit der Erinnerung und des Erhalts der jüdischen Kultur in Deutschland festgehalten. Und im selben Moment wird eine Institution wie die Komische Oper in eine ungewisse Zukunft gestürzt. Dass so etwas fast zeitgleich geschieht, ist grotesk.

Zehn Millionen Euro waren für die Sanierung eingeplant. Und jetzt hat Susanne Moser, Co-Intendantin der Komischen Oper, gesagt, dass durch den Baustopp am Ende Mehrkosten von 250 Millionen Euro zusammenkommen würden. Wie passt das zusammen?
Je länger ein Baustopp dauert, desto höher steigen die Kosten, und das macht uns so wütend. Momentan werden zehn Millionen Euro gebraucht. Im Verhältnis zu den angekündigten drei Milliarden Euro Einsparungen ist das keine hohe Summe. Es ist nichts, null. Diese zehn Millionen Euro kommen aus dem Bauetat. Wir reden gar nicht über den Kulturetat. Aber auch in diesem Bereich sind die Kürzungen schrecklich. Die Politiker wissen, dass ein Baustopp die Sanierungskosten in die Höhe treibt. Dabei haben der Regierende Bürgermeister und der Kultursenator noch vor ein paar Monaten in der Öffentlichkeit zugesagt, dass es keinen Baustopp geben wird. Jetzt habe ich den Verdacht, dass das Haus überhaupt nicht mehr saniert werden soll. Ich hoffe, ich täusche mich.

Was ist dann der Plan für das Haus?
Es steht unter Denkmalschutz, man kann es nicht abreißen und ein Hotel hinstellen.

Ihr Appell war an drei Politiker gerichtet: Kai Wegner, Stefan Evers und Joe Chialo. Haben sie sich bei Ihnen gemeldet?
Mein Brief war eine große Bitte, auf die die drei Herren nicht reagiert haben. Ich habe versucht, diplomatisch zu sein. Meine große Angst ist, dass es der Anfang vom Ende ist. Wenn man jüdisches Leben schützen und zelebrieren möchte, dann muss man das mit der Praxis verbinden. Leere Worte braucht kein Mensch. Margot Friedländer oder Igor Levit oder ich – wir leben vor, wie wichtig die jüdische Kultur ist. Und dann schließt man so ein großes Haus. Für diese jüdische Geschichte hat das eine hochgradig symbolische Bedeutung.

In Ihrer Zeit als Intendant der Komischen Oper haben Sie etliche vergessene Werke von jüdischen Komponisten wieder in die Spielpläne aufgenommen. Ebenso sagten Sie damals, dass man sich in Deutschland mehr an den Holocaust erinnern würde als an die Kunst und an das Wirken von Juden.
An den Holocaust müssen wir uns immer erinnern. Das ist selbstverständlich. Aber wie? Ich möchte nicht, dass jüdische Kultur immer mit Schuld und Mord verbunden wird. Und ich habe gesagt: »Hör mal, wir müssen auch zelebrieren, was wunderbar war.« Berlin war einmalig mit dieser unglaublichen Kombination von jüdischer und deutscher Kultur. Das ist ein Teil der deutschen Geschichte. Mein großer Wunsch war, dass das Publikum diese Stücke ohne Schuldgefühle erlebt, denn es sitzt für ein paar Stunden im Theater. Die Werke dieser jüdischen Komponisten sollen zelebriert werden, nicht weil sie ermordet oder ins Exil getrieben wurden, sondern weil sie ein einzigartiger Teil der deutschen Geschichte sind.

Während Ihrer Intendanz ehrte die Komische Oper drei Menschen mit Stolpersteinen: Kuba Reichmann, Walter Shapiro und Jakob Fritz Spira, alles ehemalige Mitarbeiter des Hauses.
Wie alle deutschen Theater, Orchester und Opernhäuser haben wir die Verlegung initiiert. Die Stolperstein-Initiative ist ein grandioses Projekt.

Sie wurden als Enkel jüdisch-russischer, jüdisch-polnischer und jüdisch-ungarischer Einwanderer in Australien geboren. Inwiefern hat Ihre jüdische Identität Ihre Zeit an der Komischen Oper geprägt?
Als Diasporajude aus Australien kann man nicht in Berlin leben, ohne sich mit jüdischer Identität zu beschäftigen. Das ist undenkbar. Wobei ich natürlich auch in Australien in vielen Projekten Theater zu jüdischen Themen inszeniert habe, genauso auch in meinen Wiener Jahren und ganz besonders dann in Berlin. Allerdings nicht exklusiv, mich beschäftigen auch viele andere Themen. Die jüdischen Themen waren für mich aber sehr wichtig, als Regisseur und auch als Intendant.

Wie blicken Sie auf Ihr eigenes Judentum?
Ich besuche nicht regelmäßig die Synagoge, aber ich liebe natürlich die Synagogalmusik. Und ich liebe das Ritual. Dennoch könnte man sagen, ich habe eine sehr komplizierte und widersprüchliche Beziehung zu Gott. Ich bin von Kopf bis Fuß ein stolzer jüdischer Mann. Und ich bin unfassbar begeistert von der jüdischen intellektuellen, philosophischen und kulturellen Tradition. Ich glaube, als Jude ist man ständig im Gespräch mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart, mit der Zukunft. Und was bedeutet eigentlich diese lange Tradition? Wo stehe ich selbst in dieser Tradition, und was ist diese Tradition heute für mich? Ich würde sagen, das bewegt fast jeden jüdischen Künstler und Intellektuellen.

Ist Ihnen in Berlin Antisemitismus begegnet?
Ja und nein. Freunde von mir, die aus Israel und aus anderen Ländern stammen, haben solche Erfahrungen machen müssen, als sie auf der Straße Hebräisch gesprochen haben. Mir selbst ist das nie wirklich begegnet. Manchmal spüre ich es sehr subtil, wie einen Unterton in den Medien, in der Kultur, manchmal bei bestimmten Journalisten oder bestimmten Politikern. Mein Eindruck ist, dass die Gesellschaft in der heutigen Zeit in »jüdisch« und »nichtjüdisch« getrennt ist. Es wird polarisiert. Aber ich finde, auch das Wort Antisemitismus ist nicht klar definiert. Das macht es schwerer, sich richtig mit Antisemitismus zu beschäftigen.

Mit dem ehemaligen Intendanten der Komischen Oper sprach Christine Schmitt.

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