Wenn ich morgens das Fenster öffne, grüßt mich ein schmucker alter Boulevard im Herzen von Potsdam – die Brandenburger Straße. Von hier sind es nur ein paar Hundert Meter zum berühmten Schlosspark Sanssouci. Danach ist die Stadt auch schon zu Ende, und es lässt sich entspannt durchatmen.
In der Woche klingelt unser Wecker um halb sieben, und dann gibt es gleich eine Menge zu organisieren. Bis acht Uhr heißt es, nicht nur Frühstück für die Kinder zubereiten, sondern auch drei der Mädchen – Sonja (12), Ida (10) und Musja (9) – zur Schule begleiten. Mein 18-jähriger Sohn Nikita, der gerade Abitur macht, hilft mir viel. Und dann ist da noch Rachel, unser Nesthäkchen, die 2011 zur Welt kam und sich an so ziemlich allem erfreut, was um sie herum passiert.
Am frühen Nachmittag kommen die Mädchen von der Schule zurück, erledigen ihre Hausaufgaben, und manchmal probieren sie danach ihre künstlerischen Talente aus. Bei einem örtlichen Kunstförderverein haben es alle drei mit eigenen Linolschnitten in ein neues Kinderbuch geschafft.
Nikita freut sich über solche Erfolge der Mädchen. Er selbst ist ein richtiger Bücherwurm, er wird bald Mathematik und Philosophie studieren. Manchmal bedauere ich es, den Kindern nicht mehr individuelle Aufmerksamkeit und Erziehung widmen zu können. Aber Michael, mein vor einem Jahr plötzlich verstorbener Mann, pflegte in solchen Momenten eher zu witzeln: »Sarah, die Kinder erziehen doch eigentlich uns.«
Hausmusik Eine wichtige Konstante in unserem Leben ist der Schabbat. Mit den Vorbereitungen beginnen wir bereits am Donnerstag. Wir essen koscher, und einige Lebensmittel sind in Berlin zu besorgen. Am Schabbat kommen uns dann oft Freunde besuchen, und wir veranstalten richtige Hausmusik. Ida und ich spielen Geige, Musja Bratsche, Sonja sitzt am Klavier, und Nikita nimmt die Gitarre. Wenn das Wetter schön ist, gehen wir auch häufig raus in die umliegenden Parks.
Bei Spaziergängen kommen auch die Erinnerungen. 2002 sind wir von Moskau nach Potsdam gekommen, damals waren wir zu viert. Anfangs hatte ich eine ziemliche Abneigung gegen die deutsche Sprache. Aber die Stadt wurde uns dann doch vertrauter, wenngleich der eher geringe Kontakt zu meinen Eltern in Moskau immer etwas schmerzt. Jüdisches Leben ist sehr familiengeprägt. Und je älter ich werde, umso stärker fühle ich das.
Dass ich Historikerin geworden bin, ist kein Zufall. Schon als Kind habe ich mich sehr für Geschichte interessiert, auch und gerade in der eigenen Familie. Heute bin ich froh, dass ich mit meiner Großmutter Rachel so viele interessante Gespräche geführt habe. Sie starb 2002 in Moskau, mein Großvater schon viel früher. Er war Ingenieur und hat zu wesentlichen Teilen den berühmten Panzer T 34 konstruiert. Von dem stand bei uns zu Hause immer ein kleines Plastikmodell herum.
Ich staune, wie Großvater es geschafft hat, all die schwierigen Zeiten in der Sowjetunion zu überleben. Nicht nur den Zweiten Weltkrieg, sondern auch die kritischen Jahre unter Stalin. Großvater war nie Kommunist und kam aus einer bekannten jüdischen Familie aus Odessa namens Aptekman. Er hatte mit ansehen müssen, wie sein Vater 1918 bei einem Pogrom von Nationalisten ermordet wurde. Aber das hat ihn nicht brechen können, er blieb ein offener und aufrechter Mensch.
Meine Eltern waren keine Oppositionellen, aber sie hatten trotzdem große Schwierigkeiten mit dem Sowjetsystem. Das konnte auch gar nicht anders sein, denn sie waren befreundet mit Dissidenten und haben mir einen ausgeprägten Sinn für Kunst und Ästhetik vermittelt. Als die Perestroika kam, habe ich gerade Abitur gemacht, das war eine unglaublich bewegende Zeit. Wir hatten das Gefühl, plötzlich frei zu atmen, interessierten uns für Demokratie, Reformen, Religion und Philosophie, wollten die Welt entdecken und neue Wege gehen. Schrittweise kamen wir auch wieder zur jüdischen Tradition zurück.
Paris Meine Eltern sind Mathematiker – aber mich hat das Spiel mit Zahlen nie interessiert. Ich wollte viel lieber Kunstgeschichte studieren. 1988 schrieb ich mich am Archiv-Institut in Moskau ein, und vier Jahre später, nach dem Abschluss, ging ich als Doktorandin nach Paris. Jahrelang habe ich dort über den Text eines Kölners geforscht, der im 12. Jahrhundert aus freien Stücken zum Christentum übertrat, zuvor aber offensichtlich Jude gewesen war. Die Textinterpretation war eine große Herausforderung.
Paris hat mich sehr beeindruckt. Die Liebe zu Frankreich konnte ich mit Michael teilen. Ihn habe ich schon während der Perestroika-Zeit kennengelernt. Er war ein unbequemer Geist und gehörte zu denen, die in der Sowjetunion nicht das studieren durften, was sie wollten. Später hat er als Mathematiker neue Anwendungen in der Soziologie ausprobiert. Schon immer faszinierten ihn auch Religion und Philosophie, in Russland hat er Paul Tillich übersetzt und veröffentlicht.
Tillich war ein großer Verfechter des interreligiösen Dialoges. 1993 begannen wir selbst mit ersten interreligiösen Veranstaltungen in Moskau, und es gab Unterstützung vom Jüdischen Weltkongress. Später war es mir sehr wichtig, auch in Potsdam mit interessierten Christen ins Gespräch zu kommen und zu schauen, was gemeinsam geht. Vor zwei Jahren habe ich begonnen, hier in der Stadt gemeinsame Gebete von Juden und Christen zu initiieren.
Im Vorstand der Jüdischen Gemeinde bin ich für Kultusfragen zuständig – und das als Frau. Es ist keine leichte Aufgabe, aber sehr spannend und herausfordernd. Da gehört auch ein gewisses Krisenmanagement dazu. Es gab Zeiten in unserer Gemeinde, da hatten wir überhaupt keinen Rabbiner. Trotzdem wollten wir natürlich Schabbatgottesdienste, Kidduschim, Pessach-Seder, Schiurim und andere wichtige Gemeindeveranstaltungen regelmäßig absichern. Wir haben damals gelernt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, aber wir bekamen auch Unterstützung von der Lauder-Stiftung in Berlin und vom dortigen Rabbinerseminar.
Witwe Michael, mein Mann, ist Anfang 2013 ganz plötzlich gestorben. Das war ein großer Schock und Schmerz für uns alle. Wir mussten uns von heute auf morgen auf einen neuen Alltag einstellen. Glücklicherweise waren Freunde zur Stelle, die uns aufgerichtet und geholfen haben, wo immer sie konnten. Einer von ihnen ist Shlomo, einer von Michaels früheren engen Freunden – er war selbst Dissident in der Sowjetunion und jahrelang Wissenschaftler in Israel. Er hat uns sehr geholfen, wieder Mut zu fassen. Zudem hat er vor Jahren ähnliche Erfahrungen machen müssen wie ich: Er verlor seine Frau und die Mutter seiner Kinder.
Shlomo lebt in der jüdischen Tradition und hat vor längerer Zeit Straßburg zu seiner Heimat gemacht. Das war übrigens die erste Stadt, die ich in Westeuropa gesehen habe, und sie ist irgendwie in mir geblieben. Shlomo und ich sind ausgesprochene Familienmenschen – auch das führt uns nun auf einen gemeinsamen Weg. Ich bin sehr gespannt auf das neue Leben. Straßburg hat eine sehr lebendige orthodoxe jüdische Gemeinde, die zugleich sehr offen und einladend ist. Frankreich ruft also zum zweiten Mal, aber noch genießen wir den Blick auf Potsdams Boulevard und die Luft von Sanssouci.