Schwerin

Lenin und Stalin erlebt

Jubilarin (M.) im Kreis ihrer Gäste: (v.l.) Schwiegersohn Oleg Asmaev, Enkelin Joulia Asmaeva sowie Tochter Inna Asmaeva und Rabbiner William Wolff Foto: Axel Seitz

Als Tochter Inna ihrer Mutter erklären wollte, dass sie von Rostow am Don nach Deutschland umziehen wollen – da war Riva Zaslavskaya schon weit über 85 Jahre alt. Nach Deutschland? Weg von der Heimat? Ohne die geliebten Katzen? Riva Zaslavskaya wollte sich nicht mehr verändern. Und dann noch in das Land, in dem ihr Mann kurz vor Ende des Großen Vaterländischen Kriegs Ende April 1945 beim Sturm auf Berlin fiel?

Jetzt sagt Tochter Inna Asmaeva – und sie weiß, dass es ihre Mutter genauso sieht –, ohne die große Veränderung hätten sie dieses Jubiläum am 2. Mai nicht erlebt: Riva Zaslavskaya feiert ihren 100. Geburtstag. Es sei ein großes Glück für die Familie, sagt die Tochter. »Wir sind sehr froh und stolz, dass Frau Zaslavskaya Mitglied unserer Gemeinde ist«, sagt Valerij Bunimov über die mit Abstand älteste Jüdin Schwerins.

Geburtstagsgäste Der Glückwunsch von Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow steht sichtbar auf der Anrichte. Zahlreiche Blumensträuße sind im ganzen Wohnzimmer verteilt. Die Geburtstagsgäste sollen zugreifen beim selbstgemachten Gebäck und Kuchen. Ein Wodka, ein Likör auf den Besuch, auf die Gesundheit! Valerij Bunimov ist in Begleitung von Gemeindemitarbeiterin Janina Kirchner und William Wolff zum Gratulieren gekommen. »Ich wünsche Frau Zaslavskaya, sie möge so alt werden wie Moses. Dann hätte sie noch 20 Jahre vor sich«, sagt der Landesrabbiner mit seinem typisch verschmitzten Lachen.

Zwar kann das Geburtstagskind den Gesprächen am Tisch kaum noch folgen, weil das Gehör mit den Jahren stark nachgelassen hat. Sie ist dafür das Gedächtnis der Familie. Tochter Inna braucht ihre Mutter nur laut genug zu fragen, dann kann diese sich an fast alles aus ihrem Leben erinnern: Zwei Weltkriege, die russische Revolution und den Bürgerkrieg, die Führer Lenin, Stalin, Breschnew und Jelzin. Das alles hat sie erlebt und überlebt. Mehr als sieben Jahrzehnte verbrachte sie in verschiedenen Orten der Ukraine, war angestellt bei der Eisenbahn und brachte es in der Buchhaltung bis zur Abteilungsleiterin.

Erinnerungsfotos Die Fotos im Familienalbum zeigen sie in Eisenbahneruniform am Schreibtisch. Zu sehen ist auch ein stolzes Porträt mit mehreren Orden am Revers. Die bekam sie unter anderem während des Zweiten Weltkriegs für ihren Einsatz, bei dem sie Menschen vor den anrückenden deutschen Truppen ins Hinterland evakuieren half. Nachdem der Ehemann im Krieg gefallen war, zog sie ihre Tochter allein groß.

Das Judentum spielte in der Familie allerdings kaum eine Rolle, Pessach war das einzige Fest, das sie feierten. Tochter Inna bekam erst in der Schule mit, dass sie Jüdin ist, weil im Klassenbuch in der Spalte »Nationalität« bei ihr »jüdischer Herkunft« verzeichnet war. Nur Rivas Vater war ein religiöser Mensch.

Mit 55 Jahren ging sie in Rente und kümmerte sich um ihre beiden Enkel, damit deren Mutter als Lehrerin arbeiten konnte. Zum 100. Geburtstag kam jetzt auch Enkelin Joulia nach Schwerin – sie lebt seit 18 Jahren in Kanada.

Pflege Da Tochter Inna selbst bereits 72 Jahre alt ist, fällt es ihr und ihrem Ehemann Oleg zusehends schwerer, sich um die Mutter zu kümmern. Ein russischsprachiger Pflegedienst hilft ihnen. Vor wenigen Jahren ist die Familie in einem Schweriner Plattenbaugebiet in ein behindertengerechtes Hochhaus umgezogen. Hier leben Juden, Spätaussiedler und Deutsche Tür an Tür. Zwar wissen die anderen Nachbarn eigentlich gar nichts über die jüdische Familie, aber das Verhältnis ist gut.

Mittlerweile wohnt die Familie zwölf Jahre in Schwerin. Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach der Heimat. Es fehlen die Freunde und Verwandten, sagt Tochter Inna. Den großen Umzug hat sie allerdings nicht bereut. In Rostow saß Riva Zaslavskaya im Rollstuhl, in Deutschland konnte sie wieder mithilfe eines Stocks allein gehen. Nicht zuletzt wegen der besseren medizinischen Versorgung hat sich der Umzug gelohnt. Innerhalb der Wohnung und auf dem Balkon ist die Jubilarin immer noch allein zu Fuß unterwegs, bei Spaziergängen geht es jedoch ohne Rollstuhl inzwischen nicht mehr.

Es war, wiederholt sich Tochter Inna, eine richtige Entscheidung, nach Deutschland zu kommen: »Mama feiert hier ihren 100. Geburtstag.« Z dnem narodzhennya – Herzlichen Glückwunsch!

Berlin

Hommage an jiddische Broadway-Komponisten

Michael Alexander Willens lässt die Musik seiner Großväter während der »Internationalen Tage Jüdischer Musik und Kultur« erklingen

von Christine Schmitt  21.11.2024

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024