Das Gebäude fällt auf – schon rein farblich. So himmelblau erstrahlt im hannoverschen Stadtteil Ricklingen sonst kein Bauwerk, hier überwiegen eher schlichte Mehrfamilienhäuser. Am vergangenen Donnerstag wurde Hannovers »blaue Synagoge«, wie sie jetzt schon genannt wird, im Beisein von 250 Festgästen aus aller Welt eröffnet. Genauer: die einzigartigen Mikwaot in einem großzügigen Anbau der Synagoge. An die Vorgängerin – eine lutherische Kirche – erinnert nichts mehr.
»Einen so wunderschönen Tag wie heute können wir uns nicht erträumen«, sagt der 78-jährige Michael Krebs, der Architekt des ehrgeizigen Vorhabens: »Jetzt erst ist die Synagoge vollständig.« Denn bislang fehlten noch die drei Mikwaot, ein Tauchbad für Frauen, eines für Männer und eines für Geschirr und rituell genutzte Gegenstände. Leib und Seele seien jetzt vereint, sagt Krebs. »Dieses Zentrum ist nicht nur ein rituelles, sondern auch ein soziales Zentrum der Gemeinde. Es soll helfen, unseren Glauben besser zu verstehen und zu bewahren«, betont Johanan Motaev, Vorsitzender der bucharischen Gemeinde in Hannover.
Sie ist eine von mittlerweile vier jüdischen Gemeinden in Hannover und zählt etwa 400 Mitglieder. Doch die Gemeinde in der niedersächsischen Landeshauptstadt bildet auch das Zentrum für die 1500 bucharischen Juden, die in Deutschland leben. Viele junge Menschen prägen das Gemeindeleben, wie der Auftritt einer Jugendtanzgruppe am Eröffnungstag zeigt. »Ich habe mich gefragt, wie so eine kleine Gemeinde so etwas Großes schaffen konnte«, sagt der bucharische Oberrabbiner Yochanan Yakobov am Eröffnungstag.
Hochzeiten und Kongresse
Hier sollen Hochzeiten gefeiert werden, aber auch Kongresse stattfinden, der erste bereits am Eröffnungstag. Knapp zwei Millionen Euro hat der Neubau gekostet, dessen erste Planungen bereits vor der Corona-Pandemie gemacht worden sind, berichtet Ever Motaev, Sohn des Gemeindevorsitzenden und für die Finanzen zuständig.
Spenden aus aller Welt und ein Zuschuss des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen haben den Neubau ermöglicht. Aber auch der große Wille des Gemeindevorstandes, ein Gebäude zu errichten, das auch strengsten Anforderungen der Tradition entspricht. So hat der 94-jährige Rabbiner Meier Posen, der als einer der kundigsten Fachleute für den Bau von Mikwaot gilt, die Bauarbeiten überwacht, oft auch per Video.
Aus aller Welt kamen Spenden zusammen.
Michael Krebs bedauert es sehr, dass der hochbetagte Rabbiner nicht zur Eröffnungsveranstaltung kommen konnte. Dafür verliest er eine Grußbotschaft des Gelehrten, der in Israel und London lebt. Der Rabbi betont, dass Mikwaot für den Erhalt des Judentums noch wichtiger als Synagogen seien. 2011 hat die bucharische Gemeinde, die ihren Ursprung in der usbekischen Stadt Buchara hat, die frühere Maria-Magdalena-Kirche in Hannover-Ricklingen erworben, saniert und umgebaut – zu einer Gebets- und Begegnungsstätte, die zentralasiatische Pracht in das etwas spröde Hannover bringt.
Die Gemeinde hat sich weder von bürokratischen Hürden abschrecken lassen noch von manchen Vorbehalten aus der Nachbarschaft, über die allerdings niemand an diesem besonderen Festtag sprechen möchte. Schließlich ist der An- und Neubau auch ein Zeichen dafür, dass man sich von Rückschlägen nicht beeindrucken lasse, sondern seinen Optimismus behalten wolle. »Fünfmal hinfallen und zehnmal aufstehen«, erklärt Krebs.
Dass das Judentum in Deutschland bedroht ist, bekamen die Festgäste am Donnerstag vergangener Woche durch irritierende Nachrichten aus Bayern auf ihre Smartphones – durch den vereitelten Anschlag auf das israelische Generalkonsulat in München, ausgerechnet am Jahrestag des Attentats auf die israelische Olympia-Mannschaft im Jahr 1972. Darauf weist Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, in seiner kurzen Rede hin. Die Mikwaot seien auch ein Zeichen dafür, dass jüdisches Leben auf ewig in Deutschland bleiben wolle. »In Deutschland gibt es mehr Synagogen, die in Museen umgewandelt wurden, als lebendige Gemeinden.«
Zukunftssymbole und Zeichen
Deshalb sei jede Mikwe, die eingeweiht werde, ein Zukunftssymbol. Einige Kollegen fragten ihn, sagt Lehrer, ob er meine, dass die Juden in Deutschland eine Zukunft hätten. »Das ist eine schwierige Frage.« Zwar gebe es noch keine Auswanderungswelle wie in Frankreich, Vereine und Verbände, auch im Sport, stünden zu den jüdischen Gemeinden. »Aber die Mehrheitsgesellschaft tut sich schwer, Zeichen zu setzen«, sagt Lehrer nachdenklich.
Schon jetzt heißt das Haus überall die »blaue Synagoge«.
In Hannover bemühen sich alle Gäste, Zeichen des Wohlwollens zu setzen. Der höchste katholische Geistliche in der Landeshauptstadt, Propst Wolfgang Semmet, spricht von einem »großartigen Projekt« der bucharischen Gemeinde. Ralph Charbonnier, Vizepräsident des evangelischen Landeskirchenamtes, betont, wie froh man sei, dass die jüdische Gemeinde die Maria-Magdalena-Kirche erworben habe. »Wir freuen uns, dass Sie in unserer Stadt leuchtend blau in Erscheinung treten.« Es sei wichtig, gerade in Zeiten der Anfeindung seine Identität zu wahren.
Wolfgang Reinbold vom Haus der Religionen in Hannover erinnert an die große Synagoge in Hannover, die die Nazis in der Pogromnacht abbrannten. Wer an eine Mikwe denke, habe oft ausgegrabene Kultstätten aus dem 11. Jahrhundert vor Augen, etwa in Erfurt oder Köln, nicht jedoch lebendiges Judentum, sagt Reinbold.
Dieser Neubau werde nicht nur die Bildsprache verändern, sondern auch das Bild der Realität. So soll es nach Auskunft der Initiatoren auch sein. Das neue Gemeindezentrum wird auch für andere offen sein.
Darüber freut sich die stellvertretende Regionspräsidentin Michaela Michalowitz, die selbst der liberalen Jüdischen Gemeinde angehört. Sie hält traditionelle Mikwaot sogar in gewisser Weise für modern. »Sie haben hier einen Tempel für Frauen und die spirituelle Reinheit geschaffen«, sagt sie, an die Adresse der Gastgeber gerichtet.