»Wenn ich spazieren gehe, will ich nicht über meine Davidsternkette nachdenken müssen, sondern darüber, dass mir die Füße wehtun.« Mit bekannter Eloquenz brachte Michel Friedman bei der Vorstellung seines neuen Buches Judenhass. 7. Oktober 2023 im Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern die Situation und das Gefühl vieler jüdischer Menschen seit dem 7. Oktober auf den Punkt. Mit einem einzigen Wort beschrieb er, was heute immer mehr jüdischen Menschen fehle: »Lebensqualität«.
Veranstaltet wurde die Buchvorstellung vom Kulturzentrum der Gemeinde unter Leitung von Ellen Presser. In München ist Friedman zurzeit mit seinen Gesprächsrunden in den Münchner Kammerspielen zu sehen, so auch bereits einige Tage vor dem Auftritt in der IKG. Zuletzt wurde sein vor zwei Jahren erschienenes Buch Fremd durch eine Solo-Performance von Katharina Bach im Haus von Intendantin Barbara Mundel aufgeführt.
»Man braucht nur Michel Friedmans Namen auszusprechen, und der Saal ist voll«
»Man braucht nur Michel Friedmans Namen auszusprechen, und der Saal ist voll«, so eröffnete IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch den Abend mit ihrem Grußwort, erfreut über die zahlreichen Gäste im Saal und den prominenten Gast auf der Bühne. Zugleich erinnerte sie an die vergangenen schwierigen Monate, die das Thema des Buches so eindringlich machten.
»Schon der Titel des Buches ist im Grunde eine Zusammenfassung dessen, was jüdische Menschen in den vergangenen 13 Monaten erlebt und durchlebt haben«, so Knobloch. »Schmerz über die noch immer entführten Geiseln, Schmerz über die Toten, aber auch Angst, Angst vor einer Gesellschaft, in der nur eine Minderheit wirklich mitfühlt. Wo die Mehrheit die eigene Empathielosigkeit hinter warmen, aber wertlosen Worten versteckt.«
Friedmans Buch finde die richtigen Formulierungen für das gesellschaftliche »Versagen gegen einen Hass, der als Judenhass hervorbricht, der aber nicht bei der jüdischen Gemeinschaft aufhört«. Die IKG-Präsidentin zeigte sich froh und dankbar darüber, Friedman mit seinen Gedanken und Einsichten an der Seite zu wissen, im Versuch, die »Schlingen dieses Hasses« zu lösen.
Zu Beginn seines Vortrags hinterfragte Friedman das Zeitgefühl, das sich seit dem 7. Oktober eingestellt hatte. »Manchmal wünsche ich mir, dass wir wieder vom 6. Oktober sprechen. War es davor, was den Judenhass in Deutschland angeht, denn wirklich in irgendeiner Form besser?«
Eine »Partei des Hasses« im Bundestag bedeute eine strukturell veränderte Situation.
Was jetzt an Judenhass herausgebrochen ist, habe im Terrorangriff der Hamas seinen Auslöser gefunden, die Bedingungen für den Hass aber, so Friedman, hätten bereits vorher bekämpft werden müssen: »Hätten die Landesregierungen, wie es immer versprochen wurde, den Anfängen gewehrt, würden wir heute nicht in der Lage sein, in der wir sind«, äußerte er auch mit Blick auf die Funktion der Antisemitismusbeauftragten. Mit seinen »Nachdenklichkeiten«, wie Friedman die gedanklichen Essays des Abends betitelte, durchstreifte er immer wieder die Entwicklungen, die zur aktuellen Situation geführt haben.
Friedman ging und geht es immer um die gesamte Demokratie
»Eigentlich wollte ich heute Abend aus meinem Buch vorlesen«, entschuldigte sich Friedman einmal nach einer längeren Ausführung. Geschrieben und gesprochen ließ der Autor das Publikum aber einen Abend lang an seinen Gedanken teilhaben, die weit über das Thema Judenhass hinausreichten. Denn Friedman ging und geht es immer um die gesamte Demokratie. Die Lage sei so ernst wie nie seit der Nachkriegszeit, und die Krise der Demokratie müsse endlich ernst genommen werden.
Eine »Partei des Hasses« im Bundestag bedeute eine strukturell veränderte Situation, auch wenn die Bedingungen dafür immer subkutan vorhanden gewesen seien. Zwar verstünde die Mehrheit sich als Demokraten, so Friedman. »Was aber, wenn die Mehrheit gelangweilte Demokraten sind? Was ist, wenn die Leidenschaft der Mehrheit für die Demokratie zu gering ist?« Die aktuelle Krise sei auch eine Krise der Aufklärung. Eine politische Vernunft könne sich kaum mehr gegen den Glauben und Aberglauben von Lügen und Propaganda auf den sozialen Medien behaupten.
»Auf Lügen kann man aber keine Welt aufbauen«, kritisierte Friedman. Dem Zeitalter der Diktaturen, wie es Russland und China propagierten, müsse mit wirksamen Taten entgegengetreten werden. Nicht zuletzt deswegen zeigte sich Friedman über die mangelnde Unterstützung für die Ukraine besonders empört.
Seine Rede beendete er schließlich doch noch mit einer Lesung aus dem Buch. Mit dem letzten Kapitel, dem »Brief an meine Söhne«, erinnerte Friedman daran, dass der Kampf gegen den Hass im Zeichen eines glücklichen Lebens stehen müsse. »Lebt euer Leben. Feiert es.«
Im Anschluss an den Vortrag kam Ellen Presser für eine abschließende Diskussion auf der Bühne dazu. »Meine eigene Fehlerhaftigkeit ist mir jeden Tag bewusst«, gestand Friedman dabei später im Dialog freimütig ein – ein ehrlicher Abschluss eines fordernden, aber bis in die Details relevanten öffentlichen Selbstgesprächs.
Michel Friedman: »Judenhass 7. Oktober 2023«. Berlin Verlag, Berlin 2024, 105 S., 12 €