Chronik

Lebenswerk einer Zeitzeugin

Sehr viel Papier lagerte bislang in der Wohnung von Inge Deutschkron, wie Besucher der Berliner Schriftstellerin und Journalistin berichten. Am Sonntag wurde das umfangreiche Archiv der mittlerweile 94-Jährigen der Berliner Akademie der Künste übergeben. »Ab sofort steht es der Öffentlichkeit zur Verfügung«, sagte die sichtlich bewegte Präsidentin der Akademie, die Regisseurin Jeanine Meerapfel.

Als Inge Deutschkron den voll besetzten Plenarsaal der Akademie betrat, eingehakt beim früheren Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz, gab es langanhaltenden Applaus. Eine Respektsbezeugung, die nicht nur dem Umstand gelten dürfte, dass die Verfasserin des autobiografischen Welterfolgs Ich trug den gelben Stern ihre über Jahrzehnte gesammelten Unterlagen einem Archiv anvertraut hat.

Blindenwerstatt Otto Weidt Es war auch ein Applaus, der der beeindruckenden Lebensleistung Inge Deutschkrons galt. Die Schoa überlebte sie zunächst in der Berliner Blindenwerkstatt Otto Weidt, die erst durch sie zu später Anerkennung gelangte. Als Weidt nicht mehr seine schützende Hand über die größtenteils jüdischen Angestellten halten konnte, tauchte Deutschkron in privaten Verstecken unter. Im Archiv findet sich auch die Liste der Wohnungen, Lauben und des Bootshauses, in dem Deutschkron auf das Ende der NS-Herrschaft wartete.

Was Deutschkron nach 1945 erlebte, davon berichtete sie am Sonntag. Die Tochter eines sozialdemokratischen Lehrers engagierte sich in der SPD und bei den Jungsozialisten, wurde in der zentralen Bildungsverwaltung Berlins angestellt und dort bald von der Sowjetischen Militäradministration unter Druck gesetzt. Sie siedelte nach England um, wohin ihr Vater vor der Schoa hatte fliehen können, und wurde dort in der Sozialistischen Internationale aktiv.

Für sie bereiste sie ein Jahr lang Indien, Burma und Nepal und lernte eine neue, sie prägende Welt kennen. »Ich hatte gewusst, dass Indien ein armes Land war, aber nicht, wie arm«, erzählte Deutschkron. Im Zug – »3. Klasse, Frauencoupé. Sie haben keine Ahnung, was das ist!« – reiste sie 1954 als Frau allein durch Indien. Sie verfasste Reiseberichte und wurde Schriftstellerin und Journalistin. »Ich wollte Werbung machen für Indien.«

1955 wechselte Deutschkron nach Berlin. Nach England wollte sie nicht mehr, dort hatte man sie als »feindliche Ausländerin« wahrgenommen, und Israel war ihr damals noch fremd: »Ich sprach kein Hebräisch, hatte keine Kontakte, das wäre nicht gutgegangen.«

Als Journalistin berichtete sie unter anderem vom Frankfurter Auschwitz-Prozess, vor allem für die israelische Zeitung »Maariv«. 29 Stenoblöcke ihrer Notizen zu dem Versuch, die Massenvernichtung juristisch aufzuarbeiten, hat sie angelegt und dem Archiv überlassen. In Artikeln mahnte sie dazu, den Auschwitz-Prozess nicht einfach als makabre Schau misszuverstehen. Ihre Einschätzung des Prozesses ist bis heute negativ: »Die Urteile waren in keiner Weise adäquat. Ich bin kein Richter, aber das kann ich beurteilen.«

ressentiments Die Vorbehalte, auf die Deutschkron, seit 1966 im Besitz eines israelischen Passes, in Deutschland stieß, waren enorm. »Sie haben ja gar kein Abitur«, gehörte noch zu den harmlosesten Ressentiments, die sich Deutschkron, die wegen der NS-Herrschaft die Schule verlassen musste, anzuhören hatte. Auch wurden ihr, die von 1958 bis 1972 für »Maariv« akkreditiert war, Bemerkungen gesteckt, die Juden hätten sich doch an den Deutschen bereichert und Ähnliches.

1960 sorgte die Autorin für einen handfesten Skandal: Sie sah auf einem Bonner Karnevalsball einen deutschen Journalistenkollegen, der sich als orthodoxer Jude verkleidet hatte. Das fand Deutschkron, die gerade erst zu den Hintergründen des Anschlags auf die Kölner Synagoge 1959 recherchiert hatte, geschmacklos: »Ich drehte mich um und gab ihm eins auf die Fresse.« Bereut hat sie ihre Tat nicht, auch wenn sie ihr in Bonner Journalistenkreisen Feindschaft eintrug.

Neben Korrespondenzen, Artikeln, Fotos, Notizen und Recherchen zu weniger bekannten Werken bewahrt das Archiv umfangreiche Unterlagen zu dem Theaterstück Ab heute heißt du Sara auf, dessen Welterfolg im Berliner Grips-Theater seinen Ausgang nahm. Das Literaturarchiv befindet sich am Robert-Koch-Platz in Berlin-Mitte.

Laut Archivarin Maren Horn ist bisher ein Viertel von Deutschkrons Archiv erfasst, der Rest sei noch in Bearbeitung. Wer sich für das Material interessiert, sollte vorab einen Platz im Lesesaal reservieren unter benutzerservice@adk.de.

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