Porträt der Woche

Lebensthema Liebe

Marion Schubert hält an dem Gedanken der Versöhnung fest

von Christine Schmitt  11.08.2024 10:44 Uhr

»Lernen ist für mich wichtig. Ich bin immer auf der Suche nach Wissen«: Marion Schubert (77) aus Berlin Foto: Uwe Steinert

Marion Schubert hält an dem Gedanken der Versöhnung fest

von Christine Schmitt  11.08.2024 10:44 Uhr

Älter werden bedeutet freier werden. Ich muss niemandem mehr gefallen. Die Zeit mit meinen Kindern und Enkeln genieße ich. Doch werde ich langsamer. Frei zu sein bedeutet aber nicht, achtlos zu leben. Wenn ich sehe, wie unversöhnlich die Menschen in den sozialen Medien miteinander umgehen, wird mir anders zumute.

Ich kam 1953 als jüdisches Flüchtlingskind mit meinen Eltern über Shanghai und Israel zurück nach Berlin. Ich hatte nie eine »Bubble«, in der alle gleich tickten, sondern musste mich mit einer mir unheimlichen Umwelt arrangieren. Der Holocaust war keine zehn Jahre her. Ich wurde immer ermahnt, vorsichtig zu sein.

Als ich 1946 in Shanghai geboren wurde, waren meine Mutter 34 und mein Vater 41 Jahre alt. Vorher hatten sie kein Geld und eine zu große Angst vor der Zukunft, um ein Kind zu bekommen. Sie hatten es in der Silvesternacht 1938/39 geschafft, vor den Nazis nach China zu fliehen. Die Jahre im Exil waren für sie sehr hart.

Mit zwei Koffern per Schiff nach Israel

Als die Kommunisten 1945 an die Macht kamen, galten Weiße dort als Kapitalisten. Meinen Eltern wurde immer mehr bewusst, dass sie in Shanghai nicht mehr bleiben konnten. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, fuhren sie mit zwei Koffern per Schiff nach Israel. Mein Vater musste bei 40 Grad Steine klopfen, dann fand er Arbeit in einer Dampfwäscherei und wurde Hausmeister an einer Schule. Meine Mutter arbeitete als Putzhilfe.

Das heiße Klima war für meine Eltern unerträglich – und so beschlossen sie, zurück nach Berlin zu gehen. 1953 kamen wir an. Oft habe ich darüber nachgedacht, ob ich das überlebt hätte, was meine Eltern durchgemacht haben. Ich war viel allein und grübelte. Vor allem wollte ich sie nicht enttäuschen, nach allem, was sie durchgemacht hatten.

Nach dem Abitur hätte ich gern Germanistik oder Psychologie studiert, aber meine Eltern drängten mich, einen Beruf zu erlernen, den ich auf der ganzen Welt ausüben und mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdienen konnte – sie sprachen aus bitterer Erfahrung. Nach der Schule machte ich ein freiwilliges soziales Jahr im »Institut für Praktische Psychologie, Erziehungsberatung und Heilpädagogik«. Anschließend lernte ich Fremdsprachenkorrespondenz in Englisch und arbeitete als Sekretärin bei einer Firma, die Chemieanlagen herstellte.

Ich sollte einen Beruf erlernen, den man überall auf der Welt ausüben konnte.

Zwei Jahre später hörte ich in der Firma auf, nachdem ich erfahren hatte, wofür diese Anlagen gebraucht werden könnten, und entschloss mich, in Israel in einem Kibbuz zu arbeiten. Doch mein Vater wurde krank und starb mit 64 Jahren. Da meine Mutter wusste, dass sie nie wieder nach Israel ziehen würde, ich sie aber in dieser Situation nicht alleinlassen wollte, entschied ich mich, in Berlin zu bleiben.

In dieser Zeit besuchte ich eine Tagung der »World Union for Progressive Judaism« in Amsterdam, wo ich einen jüdischen Marokkaner kennenlernte. Er war Student und Künstler, ich das Mädchen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Es war der letzte Versuch, meinem Vater eine Freude zu machen – einen jüdischen Mann zu finden, was er sich so gewünscht hatte. Doch ich entschied mich anders.

Beim autogenen Training lernte ich Reinhard kennen, der sich rührend um mich bemühte. Wir heirateten 1972, und unsere erste Tochter wurde in Berlin geboren. Doch dann bekam mein Mann ein Angebot, als wissenschaftlicher Referent bei der SPD-Bundesfraktion in Bonn zu arbeiten.

Drei Jahre, hieß es am Anfang, würden wir dort bleiben. Es wurden mehr. Eine zweite Tochter und ein Sohn kamen in der damaligen Hauptstadt auf die Welt. Dort schrieb ich mich zwar wieder in die Uni ein, um Erziehungswissenschaft zu studieren mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung, fand aber keine adäquate Kinderbetreuung.

Lernen ist für mich wichtig

Wenn ich mich nur als »Hausfrau und Mutter« beschreibe, muss ich schmunzeln. Denn Lernen ist für mich wichtig. Daher habe ich zunächst, um dieser neuen Aufgabe gewachsen zu sein, eine Ausbildung zur Hauswirtschaftsmeisterin gemacht. Zusätzlich habe ich an den Funkkollegs »Beratung in der Erziehung« und »Literarische Moderne« teilgenommen, war Gasthörerin an der Freien Universität, habe zwei Semester Alt-Hebräisch studiert, verschiedene Kurse besucht und bin immer auf der Suche nach Wissen.

Vor 40 Jahren entdeckte ich für mich den christlich-jüdischen Dialog. Das Bemühen um Versöhnung wird oft belächelt. Doch in meinem Leben wurde es das zentrale Thema. Das Wort aus Psalm 34 – »Suche Frieden und jage ihm nach« – habe ich wörtlich genommen.

Wenn ich Ende der 60er-Jahre in einen Kibbuz gegangen wäre, würde mein Leben ganz anders aussehen.

Wenn ich Ende der 60er-Jahre in einen Kibbuz gegangen wäre, würde mein Leben ganz anders aussehen. Doch ich bin in Deutschland geblieben und habe hier meinen wunderbaren Mann kennengelernt. Das Denken in Kollektiven war spätestens ab dann nicht mehr möglich und auch nicht authentisch.

Doch die Verbindung zu Israel bleibt schon allein wegen meiner Verwandten dort. Als unsere Kinder größer waren, machte ich 1995 in Bonn eine Computerausbildung. Eine Freundin arbeitete bei der israelischen Botschaft, und über sie fand ich dort einen Arbeitsplatz als Sachbearbeiterin. Es schien eine Zeit des Umbruchs und der Friedenshoffnung zu kommen, und ich war stolz darauf, dabei sein und mitwirken zu können. Ich lernte noch einmal Hebräisch.

Führungen durch die Synagoge

In Bonn lebten damals 200 Juden. Es ergab sich, dass ich Führungen durch die Synagoge gestalten konnte – und so tauchte ich immer tiefer in das jüdische Wissen ein. Gleichzeitig arbeitete ich in einer Bibliothek der evangelischen Kirche als Bücherei-Assistentin. Dann wurde mein Mann Reinhard leider sehr krank. 1999 stand der Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin an, und wir zogen mit. Im Jahr 2000 ging er von uns, also vor 24 Jahren.

Ich begann, mich ehrenamtlich im Spandauer Johannesstift bei einem interreligiösen Projekt des Bundesfreiwilligendienstes zu engagieren, zu dem ich eingeladen wurde. Meine Vorfahren väterlicherseits kommen aus Spandau, wo mein Vater ein Textilgeschäft hatte. Mein Großonkel Louis Salomon besaß ein Haus an der Breiten Straße 33, an dem 2014 eine Gedenktafel angebracht wurde. Zur feierlichen Zeremonie reisten die Nachkommen der überlebenden Verwandten aus Israel an. Dies bedeutete mir sehr viel.

Noch heute setze ich mich für Dialog und Begegnung ein, hoffend, damit einen kleinen Beitrag zu einem gegenseitigen Verständnis zu leisten. So kam ich letztlich zum Projekt »Meet a Jew«. Mit 77 Jahren bin ich wohl die Älteste, die dabei ist. Ich ersetze zwar nicht die Zeitzeugen, aber meine Lebensgeschichte kann die Nazizeit nicht ausklammern, und so ist es auch ein Stück Erinnerungsarbeit und Gedenken.

Zwölf meiner Vorfahren wurden von den Nazis ermordet. Ich kann sehr gut verstehen, dass viele unter diesen Umständen eine Rückkehr nach Deutschland ausgeschlossen oder zumindest keine Begegnungen mit dem Ziel der Versöhnung gesucht haben. Doch das Kennenlernen meines geliebten Mannes hat mir einen anderen Weg geebnet. Die Suche nach Liebe und Erkenntnis sollte mein Lebensthema werden.

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