Porträt der Woche

Leben für die Bühne

Sprache, Musik und Schauspiel bestimmen seinen Alltag: Grigory Kofman (63) lebt in Berlin. Foto: Rolf Walter

Für mich ist überall Zuhause. Denn ich fühle mich an jedem Ort wohl – allerdings bin ich nicht überall willkommen. Beispielsweise ist es derzeit für mich gefährlich, nach Russland zu reisen. An drei Orten liegt mir viel, das ist einmal meine Wohnung in Schöneberg, wo ich mit meiner Familie lebe, meine Heimatstadt St. Petersburg, in deren Nähe meine Mutter lebt, und ein Gut in Litauen, das ich mit zwei Freunden erworben habe, um einen Ort für unsere erhofften Festivals zu besitzen.

Einmal im Jahr organisieren wir bereits in Tauragnai in Litauen ein Theaterfestival, und das schon seit sechs Jahren. Doch ich möchte mehr: viele Tage für die Stücke, verschiedene Genres von klassischem, über Dokumentations- bis zum Improvisationstheater, und zwar auf mehreren Bühnen. Ich selbst würde das avantgardistische Theater favorisieren.

Elektrizität Ich träume erst einmal von zwei offenen Bühnen und einem Zeltlager für die Mitwirkenden und die Besucher. Aber zunächst müssen wir uns um einen zuverlässigen Wasseranschluss und die Elektrizität kümmern. Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat auch für uns alles verändert, und wir drei Besitzer wissen im Moment nicht so richtig, wie wir dieses Projekt verwirklichen können, da uns nun Sponsoren und Fördermittel fehlen.

Auch in Deutschland ist es gerade eine schwierige Zeit für Theater – selbst die großen Häuser sind vom Besucherschwund betroffen.

Aber ich kann nicht anders, als über Produktionen nachzudenken, Förderanträge zu schreiben und hoffen, dass wir es realisiert bekommen. Im Oktober standen wir mit dem Stück Ich bin’s nicht gewesen, Wladimir Putin ist es gewesen im Theaterforum Kreuzberg auf der Bühne, was wir sehr genossen haben. Ich bin sicher, dass es auch weitergespielt wird, da wir einen großen Erfolg hatten.

Komposition Mit Spirited Voices bin ich im Kulturprogramm des Zentralrats der Juden in Deutschland vertreten. In der europäischen Poesie des 20. Jahrhunderts gibt es eine Reihe jüdischer Autoren, die aus Russland und der Ukraine stammen. Überraschenderweise gibt es auch etwas, das sie nicht nur als Feinstylisten in einem mehrsprachigen Raum vereint: Es ist eine gewisse Qualität der Musikalität – eine melodische Gemeinsamkeit.

Ich analysiere und performe seit vielen Jahren solche Gemeinsamkeiten. Das Ergebnis ist ein vielfältiges Programm, eine musikalisch-poetische Komposition nach Boris Pasternak, Ossip Mandelstam, Alexander Galitsch, Iossif Brodskij und Paul Celan. Diese Autoren sind die Charaktere meiner musikalischen Solo-Performance. Ich bemühe mich, nicht nur mit ihren Texten zu sprechen, sondern mit ihren Stimmen und ihrer inneren Intonation. Dabei begleite ich mich manchmal mit meiner Gitarre.

Vor 29 Jahren kam ich der Liebe wegen nach Berlin. Aufgewachsen bin ich in einem Vorort von St. Petersburg in einem Plattenbau aus der Chruschtschow-Ära, in dem meine 93-jährige Mutter immer noch lebt. Die Häuser wurden während seiner Amtszeit zwischen 1959 und 1966 aus dem Boden gestampft. In einem Zeitraum von sieben Jahre entstanden damals Wohnungen für etwa drei Millionen Menschen. 30 Jahre sollten die Bauten halten – sie stehen immer noch.

Ich habe keine großen Ansprüche und weiß, wie man sparen kann.

St. Petersburg besteht aus Fassaden und Hinterhöfen. Die Stadt hat zwei ganz unterschiedliche Gesichter. Überlegt hatte sich Peter der Große eine Stadt, die Venedig ähnlich sei. Das Wasser ist heute zwar sehr präsent, aber bei Weitem nicht so wie geplant. Der Asphalt ist hundertmal mehr sichtbar.

Meine Mutter war Lehrerin für russische Literatur, und so bin ich mit Wortspielen und ihrer Sprachgewandtheit groß geworden. Mein Vater, der schon vor Jahren gestorben ist, war Ingenieur.

Nach der Schule entschied ich mich erst einmal für ein Chemiestudium und arbeitete anschließend mehr als zwei Jahre als Chemiker. Doch als ich studierte, entdeckte ich das Laientheater der Uni, und prompt zog es mich an. Ich war 17 Jahre alt, als das Theaterstudio mein zweites Zuhause wurde. Ich mochte es, auf der Bühne zu stehen, mich in andere Menschen hineinzuversetzen und die Sprache wirken zu lassen und zu singen.

Profibühne Sechs Jahre später übernahm ich die Leitung und war der jüngste Direktor eines Laientheaters in der Stadt. Doch mir wurde klar, dass ich Schauspiel noch studieren musste. Schließlich klappte es mit einem Studienplatz für Regie. Die Perestroika kam. Ich wollte aus dem Laientheater eine Profibühne machen und war zwei Jahre lang mit dem Umbau beschäftigt. Doch St. Petersburg wurde ärmer, da die zentristische Neigung Moskaus immer stärker wurde, was auch im Kulturbereich deutlich spürbar war. Meine erste Ehe ging in die Brüche, denn ich hatte mir kaum Zeit für meine Frau genommen. Glücklicherweise sind wir gute Freunde geblieben.

1992 änderte sich alles für mich, denn da lernte ich Susanne aus Berlin kennen. Übrigens in meinem Theater. Es war gerade frisch geöffnet, als sie dank eines Austauschprogramms mit anderen Studenten hereinkam. Sie hat Landschaftsplanung studiert und sollte innerhalb ihres Semesters die Gärten in St. Petersburg kennenlernen. Wir kamen zusammen, und nun lagen 1800 Kilometer zwischen uns. Regelmäßig pendelte ich zwischen St. Petersburg und Berlin hin und her.

Es war eine Zerreißprobe für mich. Zwei Jahre später wusste ich, dass es so nicht weiter geht: Ich musste mein Theater zurücklassen. Gleichzeitig musste ich einsehen, dass Theater gerade nicht in Mode war. 1996 gab ich es ab. Schweren Herzens, aber schon mit Ideen für meine Zukunft. Mit einer Koproduktion meines Petersburger Theaters und eines Hamburger Theaterprojektes war ich in der Hansestadt und dann in Nordirland, weil dort viele interessante Projekte entstanden.

Synchronsprecher Natürlich wurde ich nicht reich damit. Aber ich konnte damals wie auch heute davon bescheiden leben. Ich habe keine großen Ansprüche und weiß, wie man sparen kann, ohne auf Wichtiges verzichten zu müssen. Gleichzeitig erweiterte ich meine Arbeit und fand andere Quellen des Geldverdienens. Ich wurde Synchronsprecher, Übersetzer, ganz selten Dolmetscher, spreche Hörspiele ein und sprach im Bereich Medizin-Technologie die Gebrauchsanweisungen auf Russisch ein – was nun wegen des Krieges nicht mehr geht.

Förderanträge Überhaupt die Stimme. Wer mich sprechen hört, würde sagen, dass ich eine Basslage habe. Sobald ich singe, was ich gerne mache, ändert sich die Spannung in meinem Mund, meiner Lunge und Luftröhre, und ich nehme die Höhe und Farbe einer Altstimme an. Es ist immer die Frage, wen man anspricht. Sich selbst, das Gegenüber, das Publikum, das imaginäre Publikum oder den Kosmos. Die Stimme passt sich an.

Ich dusche kalt, schalte Putin also nicht an.

Schließlich erwarb ich mein zweites Theater, das Russische Theater Berlin. Wieder schrieb ich Förderanträge, bekam Unterstützung von der Lotto- und der Heinrich-Böll-Stiftung und vom Berliner Senat. Die Büroarbeit war intensiv, da blieb wenig Zeit für Regie. Es waren schwierige Zeiten für mich, aber ich hatte Energie wie ein Stier. Davon lebte ich. Doch für Russen, die in deutscher Sprache auftreten, gab es wenig Publikum. Die Russen selbst wollten lieber berühmte Schauspieler aus ihrer Heimat erleben, die hier ihre Gastspiele gaben.

Das war allerdings nicht meins. Ich verkaufte das Theater schließlich 2008. Dennoch hatte ich noch viele Produktionen und für einige Jahre Aufträge.

WG Als ich nach Berlin zu meiner Frau zog, lebte sie in einer Wohngemeinschaft. Mit der Zeit sind die zwei anderen Bewohner ausgezogen, sodass wir alle Zimmer für uns haben. Ein Raum ist so groß, dass wir in ihm auch Stücke einstudieren können. Vor 20 Jahren wurden unsere Zwillinge geboren, die nun mit Abitur in der Tasche ihrer eigenen Wege gehen – Theater scheint da keine große Rolle zu spielen, aber Sprachen, die Liebe zur Geschichte und das Interesse an der Politik.
Mit meinem kleinen Ensemble trete ich weiter auf, und nun habe ich mit einer Cellistin ein neues Duo gegründet.

In den nächsten Tagen reise ich nach Israel und werde dort auch auf der Bühne stehen. Wenn ich Zeit finde, schreibe ich auch gerne Gedichte – mittlerweile sind es sechs Bände geworden, die allerdings auf Russisch publiziert sind.

Eine erfrischende Leidenschaft habe ich noch: Ich dusche kalt, schalte Putin also nicht an. Und seit 30 Jahren springe ich auch im Winter in einen kalten See. Genauso gehe ich auch neue Produktionen an.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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