Stadthagen, Göttingen, Hannover – auf Einladung der Corvinius-Stiftung, die sich als Förderer der Evangelischen Akademie Loccum definiert, hat Claude Lanzmann Niedersachsen besucht und ist für einen Abend nach Hannover gekommen.
Auf einer Nebenbühne des Schauspielhauses nimmt der Regisseur auf einer von exotischen Pflanzen überwucherten Terrasse – die Kulisse der aktuellen Theaterproduktion My Sweet Haiti – Platz. Der patagonische Hase steht auf der Einladung. Die Sitzreihen sind voll besetzt. Das Ensemble ist hochkarätig. Isabella von Treskow, Professorin an der Uni Regensburg, stellt »für alle, die das Buch nicht gelesen haben«, den Gast vor. FAZ-Redakteur Nils Minkmar soll Lanzmann interviewen und macht gleich deutlich, dass Fragen aus dem Publikum nicht vorgesehen sind, aus Zeitgründen.
Zwei Stunden sind eingeplant, und Lanzmann spricht heute Abend nur Französisch. Ein Übersetzer müht sich, bei dem Wettlauf mitzuhalten und um jede Sekunde zu kämpfen. Wer selbst der französischen Sprache mächtig ist, der hat das große Vergnügen, Lanzmann zu verstehen, diesen weisen alten Mann, der weiß, wie Freiheit schmeckt und dass Zeit nicht wichtig ist, und der begnadet parlieren kann, sich auf Seitenwege begibt, einen Bogen fährt und dann doch wieder zum Kern zurückkommt. Das Ganze würzt er immer wieder mit einem kräftigen Schuss schwarzen Humor oder einem amüsanten flapsigen Ausdruck – so wie in seinem Buch eben, das immerhin über 1.000 Seiten umfasst.
Bühnenzauber Eine der zentralen Fragen, die ihn in seiner Autobiografie Der patagonische Hase beschäftigen, sei, so Lanzmann, die, ob die ganze Welt vielleicht ein Bühnenbild ist? Das Stück, das er hier in Hannover spielt, legt dies nahe. Zeitweise erinnert die Aufführung an Theatersport. Die Fragen, die Nils Minkmar respektvoll beflissen stellt, fegt Lanzmann souverän vom Podium.
Wer fragt, der führt – diese goldene Regel für Interviewer wird hier ad absurdum geführt, eine Vorstellung, die für das Publikum schon wieder amüsant ist. »Warum fragen Sie mich das? Lassen Sie uns lieber über Hasen reden«, heißt es da. Oder: »Wollen wir über Ihre Begegnungen mit Sartre sprechen?« »Mais non, lieber über das Verhältnis zur Zeit.« Und so erfährt der Besucher, wie es einem Claude Lanzmann möglich war, die Arbeiten an seinem Film Shoah über zwölf Jahre zu erstrecken, obwohl es immer wieder ein »fürchterlicher Kampf« war.
Pläne »Aber ich habe immer nur auf meine eigene Stimme gehört und bin meinen eigenen Weg gegangen«, sagt er, und »die Zeit hat für mich aufgehört, weiterzugehen. Sie hat innegehalten und ist bis heute nicht wieder in Gang gekommen.« Noch immer habe er, der 85-Jährige, überhaupt kein Bewusstsein für sein Alter. »Ich habe das Gefühl, dass ich noch Jahre vor mir habe und viele Dinge tun kann«, sinniert er.
Und so gelingt es dem Regisseur, nach zwei Stunden, die fast unbemerkt verstrichen sind, mühelos den Bogen in die Zukunft zu schlagen, zu seinem nächsten Buch. Im Januar oder Februar 2012 wird es herauskommen, als Sammlung »philosophischer, politischer und polemischer Texte«, geschrieben und herausgegeben von einem Autor und Philosophen, der sich abschließend selbst charakterisiert als »der objektive Geist im Hegelschen Sinne«.