Im Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« ist auch Würzburg ein Hotspot für alle, die an jüdischer Geschichte und Kultur interessiert sind. Seit 2. Juli lädt im Jüdischen Gemeindezentrum »Shalom Europa« die Installation »Nachhall« des Berliner Künstlers Jens Reulecke ein, sich mit der großen Vergangenheit der jüdischen Gemeinde in der Bischofsstadt auseinanderzusetzen. Im Ausstellungsraum des Johanna-Stahl-Zentrums, dem Dokumentationszentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, hat Reulecke einen Wald aus »Federbäumen« aufgebaut, die in Steinen wurzeln.
Die Steine sind Teile von Grabsteinen, die einst Bestandteil des mittelalterlichen Friedhofs der Jüdischen Gemeinde Würzburg waren. Sie war im 13. Jahrhundert eine der wichtigsten jüdischen Gemeinden in Mitteleuropa, hörte aber nach mehreren blutigen Pogromen und Vertreibungen im 15. Jahrhundert auf zu bestehen.
Juliusspital Als Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn in den 1570er-Jahren auf dem Gelände des Friedhofs das heute noch existierende »Juliusspital« errichtete, ließ er den jüdischen Friedhof trotz heftigen Protests einebnen. Die Grabsteine aus dem Zeitraum 1129 und 1346 waren bereits lange zuvor abtransportiert und für den Neubau eines Klosters verwendet worden.
Ende der 80er-Jahre waren bei Abbrucharbeiten eines Gebäudes im Würzburger Stadtteil Pleich die Grabsteine wieder gefunden worden.
Ab Januar 1987 kamen sie beim Abbruch des Gebäudes im Würzburger Stadtteil Pleich, in dem die Grabsteine und Grabsteinfragmente verbaut waren, wieder ans Tageslicht. Ein Sensationsfund, denn so viele Grabsteine wie in Würzburg sind aus keinem mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Europa erhalten geblieben. Ihre Bedeutung erkannte der 2020 verstorbene katholische Theologe und Judaist Karlheinz Müller. Er sorgte für die Sicherung und wissenschaftliche Auswertung des einzigartigen Quellenmaterials. Heute lagern die Steine im Keller von Shalom Europa.
Den entscheidenden Impuls für seine Installation erhielt Reulecke aber nicht im Innenhof des Juliusspitals, sondern in einer nächtlichen Vision: »Ich wachte nachts plötzlich auf«, berichtet er. »Ich hatte den Friedhof vor Augen, als käme mir von dort etwas entgegen.« Die geballte Energie, die Reulecke in diesem Moment spürte, und die intensive Wahrnehmung des abwesenden und doch anwesenden Ortes gaben den Ausschlag für die kreative Auseinandersetzung mit dem geschändeten jüdischen Friedhof.
Pläne Zuerst hatte Reulecke eine Installation im Innenhof des Juliusspitals, am authentischen historischen Ort, geplant. Als sich dieses erste Projekt zerschlagen hatte, blieb der Berliner, dessen Frau lange in Würzburg gearbeitet hatte, dennoch am Thema »dran«. Nach und nach hat er das heute realisierte, komplexe und zur Reflexion anregende Konzept entwickelt.
Bis »Nachhall« realisiert werden konnte, hat Reulecke drei Jahre Federn gesammelt.
Leicht und kraftvoll sollte sein Werk sein – diese Anforderungen hatte Reulecke an das Projekt. Außerdem wollte er auch seine Erfahrungen, seine Gefühle und Hörerlebnisse, seine »Vision«, in »Nachhall« einbringen. Die von Reulecke gewollte »Anwesenheit« wird dreifach rhythmisiert – durch großformatige Fotografien, die in den Grabsteinen wurzelnden »Federbäume« und akustische Impulse.
Bis »Nachhall« in seiner heutigen Form realisiert werden konnte, hat Reulecke drei Jahre Federn gesammelt – Symbole eines zwischen Himmel und Erde vermittelnden Elements. Die Federn stammen von verschiedenen Vogelarten: Tauben, Eichelhähern, Habichten, Schwänen und Enten. Zuerst entwickelte er in seinem Atelier eine Installation, die aus Federn zwischen zwei Ringen bestand. Damit wollte er die Federn in Bewegung bringen.
Die großformatigen Fotografien dieser »Feder-Ringe« übermalte er mit farbigen Formen. Neun dieser Fotografien hängen an den Wänden im Ausstellungsraum des Johanna-Stahl-Zentrums. Man kann sie auch als »Fenster« zum abwesenden Friedhof verstehen, als »Durchblicke« und »Klangöffnungen«. Schließlich hat Reulecke den »Wald« oder »Hain« mit den Grabsteinen als Basis, den großen Ästen und den Federn als Zentrum des »Nachhall«-Projekts entwickelt.
Maßgeblich zur atmosphärisch dichten Wirkung des Kunstprojekts tragen auch die akustischen Impulse bei, die Studenten und Studentinnen der Hochschule für Musik Würzburg unter der Leitung von Almut Gatz eingesungen haben. 19 Namen von Jüdinnen und Juden, die auf dem Friedhof in der Würzburger Innenstadt für die Ewigkeit bestattet wurden, erklingen als Klanginstallation. Die Namen werden nicht nur gesprochen – sie werden auch als Wispern, Hauch, Gesang oder Ausruf »lebendig«.
Erlebnis Akustik, Haptik und Optik sind in »Nachhall« so im besten Sinn beeindruckend vernetzt. Das Ergebnis: Trotz seiner Abwesenheit können die Besucher den lange verschwundenen jüdischen Würzburger Friedhof buchstäblich erspüren. Der Ausstellungsraum des Johanna-Stahl-Zentrums verwandelt sich zu einem dichten und zugleich offenen, bewegten Raum der Anwesenheit des Abwesenden. Ein vielsinniges und sinnliches Erlebnis. Offiziell eröffnet wird »Nachhall« am 28. Juli von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden.
»Würzburg liest« beschäftigt sich mit dem Werk von Max Mohr.
Schuster begleitet auch das zum vierten Mal stattfindende Projekt »Würzburg liest ein Buch«. Die Lesungen und Vorträge der Reihe beschäftigen sich in diesem Jahr mit dem Roman Frau ohne Reue des jüdischen Autors Max Mohr, der 1891 in Würzburg geboren wurde, erklärt Schuster. Das Thema dieses Jahres mache die Woche zu einem »ganz besonderen Ereignis«.
»Mich begeistert es jedes Mals aufs Neue, welche tollen Aktivitäten sich die Würzburgerinnen und Würzburger einfallen lassen«, betont Schuster. Die Vorstellung von Autor und Buch durch Roland Flade fand im David-Schuster-Saal der Gemeinde statt. Der in der Weimarer Republik sehr erfolgreiche Autor starb 1937 in Shanghai. Die zentrale Veranstaltungswoche fällt in die Zeit vom 15. bis 25. Juli.
Am 29. Juli und 2. September finden zwei Performances zu »Nachhall« im Innenhof von Shalom Europa und in der Innenstadt statt – ganz in der Nähe des Ortes, wo sich vor einigen Wochen die Messerattacke ereignete. Für den 1. September ist ein Vortrag der Münchner Historikerin Eva Haverkamp-Rott zum Thema »Familienbande auf Ewig – Die mittelalterliche jüdische Gemeinde in Würzburg und ihr Friedhof« geplant.
Die Ausstellung »Nachhall« im Johanna-Stahl-Zentrum ist noch bis zum 30. September zu besichtigen.