Frankfurt/Main

Künstlerisch anders begabt

Stammgast: Ilan Friedman verbringt seine Zeit im Atelier Eastend am liebsten mit Malen. Foto: Rafael Herlich

Atelier Eastend. Der Begriff erinnert an den gleich klingenden Stadtteil in London. Im East End, einem einst heruntergekommenen und heute trendigen Viertel der britischen Hauptstadt, siedeln sich seit einigen Jahren Künstler und Ateliers an. Eine ähnliche Entwicklung hat auch im östlichen Stadtteil der Mainmetropole begonnen. Im Frankfurter Ostend entsteht der neue Büroturm der Europäischen Zentralbank (EZB). Das Viertel belebt sich, im EZB-Umfeld sollen sich Bars, Cafés, Restaurants und eben auch Galerien ansiedeln.

Eine erste Galerie hat bereits Anfang des Jahres geöffnet. Es ist ein besonderer Ort, und dies nicht etwa, weil im Atelier Eastend Ausstellungs- und Produktionsstätte vereint sind. Diese kleine Oase an der Ostendstraße ist eine Tagesbetreuungseinrichtung für Juden mit geistiger und psychischer Behinderung. Mittels Kreativität werden sie in die Arbeitswelt und in das soziale Leben integriert.

Tagesbetreuung In Hessen ist sie nach 1945 die erste Einrichtung ihrer Art. Eine vergleichbare gibt es nach Angaben der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) bundesweit nur noch in Berlin. Das Projekt richtet sich an jüdische Menschen, die derzeit nur eine geringe oder keine adäquate Tagesbetreuung oder Beschäftigungsmöglichkeit haben. Entstanden ist es in Kooperation mit der ZWST, der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und dem Internationalen Bund (IB)-Behindertenhilfe Frankfurt. Finanziert wird das zunächst auf drei Jahre anvisierte Projekt von der Aktion Mensch.

Einer der regelmäßigen Besucher des Ateliers ist Ilan Friedman. Der 22-Jährige kommt dienstags bis freitags und verbringt die Zeit gerne mit Malen – mehrmals in der Woche auch unter der Anleitung von Costa Bernstein. Das Konzept ist aus einem Projekt entstanden, das der Künstler initiiert und lange Zeit in seinem eigenen Atelier umgesetzt hatte.

Die Anfänge dieser Kunstwerkstatt wiederum gehen auf die Doktorarbeit von Dinah Kehan zurück. Sie hatte über jüdische Emigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und ihre behinderten Angehörigen geforscht. Daraus entwickelte sich vor etwa sieben Jahren die Idee, die Familien und ihre Angehörigen via Kunstprojekte zusammenzubringen. Und das geschah in regelmäßigen Abständen im Atelier von Bernstein, der selbst aus St. Petersburg stammt. Seine sprachliche, kulturelle und kreative Kompetenz kann der 39-Jährige nunmehr als künstlerischer Leiter des Ateliers Eastend einsetzen.

Isolierung Jüdische Zuwandererfamilien mit behinderten Angehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion seien häufig in »zweifacher Hinsicht benachteiligt und isoliert«, erklärt dazu Paulette Weber, Leiterin des Sozialreferats bei der ZWST. Sie seien zum einen bisher aufgrund sprachlicher Barrieren und kultureller Differenzen nicht ausreichend rechtlich und psychosozial beraten und unterstützt worden.

Zum anderen lebten sie häufig in einem isolierten familiären Umfeld. Durch die Behinderung hätten sie besondere Schwierigkeiten, die deutsche Sprache zu lernen und auch Kontakte zu nicht russisch sprechenden Menschen aufzunehmen.

Die Folge daraus beschreibt Weber so: Russischsprachige Menschen mit einer geistigen Behinderung sind häufig beruflich nicht eingegliedert, obwohl sie sich das sehnlichst wünschen. Adäquate Angebote fehlten häufig. Um ihnen »wenigstens in einem Teilbereich ein Leben in der Gesellschaft mit zufriedenstellender Tätigkeit zu ermöglichen und ihre kreativen Potenziale zu wecken« sei das Atelier Eastend entstanden. In dieser Tagesstätte erhalten sie die Möglichkeit, ihre kreativen Fähigkeiten zu wecken und ihr Selbstbewusstsein unter Einbindung in feste Abläufe zu stärken.

»Unser Atelier ist ein inklusives Angebot. Wir wollen weg von dem Gedanken großer, komplexer Einrichtungen mit festen Strukturen und hin zu kleineren Betreuungseinheiten«, fasst Janine Heinlein-Schrot, IB-Mitarbeiterin und Leiterin von Eastend, das Konzept der Einrichtung zusammen. Ausgerichtet ist die Tagesstätte mit integrierter Kunstwerkstatt und Ausstellungsraum für 15 Klienten jüdischer und nichtjüdischer Herkunft.

schöpferisch Im Atelier werden verschiedene Workshops angeboten. Sie konzentrieren sich auf kreative und schöpferische Tätigkeiten in jüdischen Zusammenhängen. Geplant sind die Herstellung von Judaica-Produkten, Malerei und freies Gestalten mit verschiedenen Materialien und Tonarbeiten. Die besonderen Ressourcen der Klienten sollen gefördert werden, sodass sie über den kreativen Prozess eine Möglichkeit finden, »sich auszudrücken und künstlerisch hochwertige Produkte zu erzeugen«.

Schon jetzt ist dort so manch schönes Objekt ausgestellt, das Ausstellungsbesucher gegen eine Spende erstehen können. Anzunehmen, dass den einen oder anderen EZB-Banker der Spaziergang in der Mittagspause ins »Eastend« führen wird und er mit einem Kunstwerk ins Büro zurückkehrt.

Chemnitz

Skulptur für Holocaust-Überlebenden Justin Sonder

Der Chemnitzer Ehrenbürger war bis ins hohe Alter als unermüdlicher Zeitzeuge unterwegs. Sogar mit mehr als 90 Jahren besuchte er noch Schulen, um in den Klassenzimmern von seinen Erinnerungen zu berichten

 07.11.2024

Interview

»Ich hatte großes Glück«

Der deutsch-russische Jurist German Moyzhes über seine Zeit im Gefängnis, den Gefangenenaustausch und einen Neuanfang in der Kölner Gemeinde

von Christine Schmitt  07.11.2024

Potsdam

Jüdisches Leben sichtbar machen

Eine Themenwoche startet mit Führungen, Workshops und Diskussionen – Anlass ist der Jahrestag des Novemberpogroms 1938

 07.11.2024

9. November

Zum Erinnern motivieren

Wie die Gemeinden mit Kommunen, Kirchen und Nachbarn an die Pogromnacht erinnern

von Matthias Messmer  07.11.2024

Frankfurt

Premiere, Party, Punkte

500 Jugendliche nahmen am »Jewish Quiz« teil – es blieb spannend bis zum Schluss

von Eugen El  07.11.2024

München

Eindringliche Warnung

Peter R. Neumann beleuchtet die Gefahren eines neuen Dschihadismus

von Luis Gruhler  06.11.2024

Berlin

Kai Wegner gratuliert Margot Friedländer

Die Holocaustüberlebende wird heute 103 Jahre alt

 05.11.2024

9. November 1938

»Mir war himmelangst«

Ruth Winkelmann (96) überlebte die Novemberpogrome und die NS-Zeit in Berlin

von Nina Schmedding  05.11.2024

Chabad Berlin

Ein offenes Haus

Pears Jüdischer Campus: Seit einem Jahr ist die Bildungsstätte von Chabad in Betrieb – ein Besuch

von Pascal Beck  04.11.2024