Nachruf

»Komm! ins Offene, Freund!«

Zum Tod des Berliner Schriftstellers und Theaterkritikers Jochanan Trilse-Finkelstein

von Ludger Heid  27.03.2017 18:26 Uhr

Jochanan Trilse-Finkelstein sel. A. (1932–2017) Foto: Margrit Schmidt

Zum Tod des Berliner Schriftstellers und Theaterkritikers Jochanan Trilse-Finkelstein

von Ludger Heid  27.03.2017 18:26 Uhr

Jochanan Trilse-Finkelstein trat gern mit einem schwarzen T-Shirt vor sein Publikum. Darauf stand der Satz: »So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen« – ein Heine-Zitat. Der Träger des T-Shirts kannte die Textstelle genau, war er doch einer der renommiertesten Heine-Biografen. Jochanan Trilse-Finkelstein, der große Heine-Kenner, starb am 23. März im Alter von 84 Jahren in Berlin.

Mit dem deutsch-jüdischen Dichter verband ihn viel. Seine Biografie über den Verehrten, erstmals 1997 zu dessen 200. Geburtstag erschienen, belegt diese Verbundenheit. Trilse-Finkelstein gab ihr den Titel Gelebter Widerspruch. Der Titel passte auch zu seinem eigenen Leben. So verschenkte der Autor sein Heine-Buch gern an enge Freunde und versah es mit persönlicher Widmung. Oft wählte er dafür ein Heine-Zitat: »Dass ich aber einst die Waffen ergriff, dazu war ich gezwungen durch fremden Hohn, durch frechen Geburtsdünkel – in meiner Wiege lag schon meine Marschroute für das ganze Leben« und fügte dann hinzu: »Wie in meiner auch.«

shanghai Jochanan Trilse-Finkelstein wurde 1932 in Breslau unter dem Namen Christoph Trilse als Sohn einer jüdisch-sozialdemokratischen Familie geboren. 1933 ging die Familie ins Exil, zunächst, da die Mutter, Esther Finkelstein, österreichische Staatsbürgerin war, nach Wien, ab 1938 über Prag und Ungarn nach Triest. Von dort gelangte die Familie auf eines der letzten Flüchtlingsschiffe nach Shanghai und lebte dort bis 1941, bevor sie aus gesundheitlichen Gründen – die Mutter vertrug das Klima nicht – nach Wien zurückkehrte.

Die Trilses lebten zunächst mit falschem Pass in der Illegalität. Der Vater konnte als Arzt arbeiten. 1943 flohen sie erneut – diesmal nach Jugoslawien. Die Eltern schlossen sich in Slowenien und Kroatien der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee an. 1946 kehrte die Familie nach Österreich zurück, 1952 zog sie nach Deutschland. Alle anderen Verwandten waren in der Schoa ermordet worden.

Nach Kriegsende studierte Trilse-Finkelstein Schauspiel am Wiener Max-Reinhardt-Seminar sowie Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft in Frankfurt am Main und Leipzig. Beruflich war er ausgesprochen vielseitig. So arbeitete er als Theaterkritiker, Literatur- und Theaterwissenschaftler und seit 1959 zudem als Dramaturg. Darüber hinaus war er als Lektor, Dozent und Publizist tätig. Dabei immer leichtfüßig und belesen, flanierte er mit seinen Lesern durch die Geschichte.

facetten Legendär wurden seine regelmäßigen »Berliner Theaterspaziergänge« in der Politik- und Kulturzeitschrift Ossietzky, die sich als Nachfolgeorgan der Schaubühne (und späteren Weltbühne) versteht. Trilse-Finkelstein beherrschte unterschiedlichste Facetten literarischer Genres als ein nahezu selbstverständliches Attribut.

Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1978 zum fünften Mal Steine die Fenster der mütterlichen Wohnung trafen, nahm Trilse diese Tat zum Anlass, seinen jüdischen Namen wieder anzunehmen: Jochanan Finkelstein.

1990 war er Mitbegründer des Jüdischen Kulturvereins in Berlin. Er veröffentlichte Artikel in der Vereinszeitschrift Jüdische Korrespondenz, unter anderem die regelmäßige Artikelserie »Jeder Tag ein Gedenktag«. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören neben Theaterkritiken auch etliche Beiträge zur Judaistik sowie eine Studie zu Heine und Tucholsky. Zur Buchmesse 2015 erschien sein Alterswerk, eine umfangreiche, 650 Seiten starke Biografie des DDR-Dramatikers Peter Hacks.

hölderlin An diesem Mittwoch wurde Jochanan Trilse-Finkelstein auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beigesetzt. In der Traueranzeige finden sich neben dem Magen David die schlichten Worte Friedrich Hölderlins: »Komm! ins Offene, Freund!«

Weiter heißt es: »Seine Eltern kämpften als Partisanen und Offiziere im medizinischen Dienst der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee gegen den Faschismus. Er selbst war Kindersoldat an der Seite seiner Eltern. Alle anderen Mitglieder seiner Herkunftsfamilie wurden Opfer der Schoa. Zakhor!« Und neben seinen biografischen Koordinaten dann die schlichte Angabe: »Autor, Theaterkritiker«. Jochanan Trilse-Finkelstein war viel mehr.

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Uni Würzburg

Außergewöhnlicher Beitrag

Die Hochschule hat dem Zentralratspräsidenten die Ehrendoktorwürde verliehen

von Michel Mayr  20.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024