Schaulustige stehen mit Spannung dicht gedrängt vor dem Anne Frank Zentrum in der Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte. Die Polizisten haben viel zu tun, damit der Eingang frei bleibt, denn hoher Besuch hat sich angekündigt: König Willem-Alexander der Niederlande und Bundespräsident Frank- Walter Steinmeier (SPD).
Im Innenhof ist ein riesiges Porträt von Anne Frank an die Wand gemalt worden. Darunter warten die Fotografen, einige Journalisten und Mitarbeiter der niederländischen Botschaft. Veronika Nahm, Leiterin des Anne Frank Zentrums, ist ebenfalls bereit, ihre Gäste zu begrüßen. »Es ist uns eine Ehre«, sagt sie wenige Minuten später, als die beiden Staatsoberhäupter nebeneinander in den Hof schreiten. »Als wir für einen Besuch angefragt wurden, haben wir uns sehr gefreut«, sagt Nahm. Die gemeinsame Erinnerungskultur verbinde die beiden Länder. Das Anne Frank Zentrum in Berlin ist seit 1998 die deutsche Partnerorganisation des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam.
»Was wissen die jungen Leute bei Ihnen über Anne Frank?«, wollte der König wissen.
Zusammen geht es nun die Treppe hinauf zur Ausstellung, wo »Peer Guide« Antonia Debus die beiden Gäste begrüßt. Die 25-Jährige gibt eine kurze Einführung. Die Ausstellung Alles über Anne will Einblicke in die Lebensgeschichte des Mädchens geben, das in Amsterdam mehrere Jahre in einem Versteck leben musste, dort ihr weltberühmtes Tagebuch schrieb und schließlich als 15-Jährige im Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen an den Folgen der Lagerhaft starb.
GEBÄRDENSPRACHE »Über die Beschäftigung mit ihrer Biografie und ihrem Tagebuch erhalten die Besucher einen persönlichen Zugang zur Geschichte des Holocaust«, so Antonia. Die Ausstellung ist interaktiv, denn es gebe viele Möglichkeiten, sie zu verändern und sie mit eigenen Beiträgen zu erweitern, sagt sie.
Sie soll zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart anregen. »Und sie ist inklusiv, denn wir haben auch ein Blindenleitsystem, und Sie können auf den Monitoren die Übersetzungen in Gebärdensprache sehen«, so Antonia, die dabei auf den Bildschirm zeigt.
»Hoffentlich«, sagt König Willem-Alexander und lächelt, denn der Bildschirm wird von einem Fotografen versperrt. Dann sagt er ernsthaft: »Das Wichtigste ist doch, dass es Diskussionen gibt – auch über Freiheit.« Er habe gelernt, als er das modernisierte Anne-Frank-Haus 2018 in Amsterdam eingeweiht habe, dass die jüngere Generation nicht mehr allzu viel über das Mädchen wisse, das als eines der bekanntesten Opfer des Holocaust gilt. »Wie ist das bei Ihnen?«, fragt er die Leiterin. Das Interesse sei ungebrochen, und es gebe immer mehr Anfragen, meint Veronika Nahm.
Dann geht es weiter zu den Schülern Paula Schmidt und Philipp Prüter, die schon vor mehreren Infotafeln warten. Denn sie sind Anne-Frank-Botschafter. »Sie engagieren sich für eine demokratische Gesellschaft«, sagt Veronika Nahm. Dazu realisieren sie selbstständig eigene Projekte in ihrem Heimatort.
»Mit ihren Aktionen leisten sie einen wichtigen Beitrag, um an das Mädchen und den Holocaust zu erinnern.« Das Zentrum fördert und unterstützt sie und zeichnet sie schließlich nach Abschluss ihres Projektes als Botschafter aus.
SCHÜLER Alle Botschafter waren zunächst als jugendliche Peer Guides in Anne-Frank-Wanderausstellungen, von denen es mehrere mit unterschiedlichen Themen und für verschiedene Altersstufen gibt, im Einsatz.
Der 18-jährige Philipp hat das so wichtig gefunden, dass er sich gefragt hat, was man machen kann, wenn die Wanderausstellung Lesen und Schreiben mit Anne Frank des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam, die vom Königreich der Niederlande unterstützt wird, nicht mehr da ist. Er hat sich daraufhin das Projekt ausgedacht, sich mit Fünftklässlern seiner ehemaligen Grundschule in Niepars bei Stralsund auf die Spuren von Anne Frank zu begeben. Das hat er nun schon dreimal erfolgreich angeboten.
»70 Schüler haben dadurch Anne als Person kennengelernt«, sagt der Schüler. Dazu nutzt er Materialien des Zentrums, die für jeden Interessierten zur Verfügung stehen, und fügt hinzu: »Ich möchte Anne Gehör verschaffen.« Die Schulleitung sei davon so angetan, dass sie ihn nun immer wieder anfragt.
Es geht auch darum, Anne Franks Erbe im digitalen Zeitalter zu bewahren.
Paula Schmidt aus Ludwigshafen wurde für ihr Engagement sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Die 16-Jährige hat mit vier Freundinnen den Instagram-Account »project.equalitea« konzipiert und umgesetzt. So posten sie regelmäßig erscheinende Beiträge für Gleichberechtigung und gegen Sexismus und Diskriminierung. Mit kurzen, selbst gedrehten Filmen, recherchierten Fakten und individuellen Geschichten machen sie auf Vorurteile und diskriminierende Strukturen aufmerksam. 1318 Interessierte folgen ihnen.
Wie verhindert man Fake News, möchte König Willem-Alexander von ihr wissen. »Wir verwenden nur seriöse Quellen und legen Wert auf eine ordentliche Faktengrundlage.« Es gehe auch darum, Anne Franks Erbe im digitalen Zeitalter fortzuführen, sagt die 16-Jährige.
Wenn es um den Kampf gegen Antisemitismus geht, müsse man bei Kleinigkeiten anfangen, meint der König. »Man darf nichts akzeptieren. Super, was hier gemacht wird.«
PROGRAMM König Willem-Alexander und Frank-Walter Steinmeier sehen beeindruckt aus. Wie viele Botschafter es denn gebe? »Mittlerweile 315«, sagt Veronika Nahm. Bisher wurden 85 Projekte umgesetzt. Jedes Jahr im September werden die Botschafter geehrt. Der Kreis vergrößere sich kontinuierlich. Anschließend werden sie regelmäßig zu Aktivitäten und Treffen wie dem jährlichen Jugendcamp eingeladen.
Für den König ist es der erste Staatsbesuch in Deutschland seit seiner Amtsübernahme 2013. Eigentlich wollte er schon im vergangenen Jahr kommen, aber Corona ließ das nicht zu. Das Gedenken an Anne Frank stand am Anfang des vollgepackten Programms, bei dem noch Treffen mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Kalender standen.
»Es ist immer zu kurz bei einem Staatsbesuch«, sagt Willem-Alexander bedauernd am Ende seines Besuchs im Anne Frank Zentrum. Von dort geht es weiter: zur Kranzniederlegung an der Neuen Wache.