Schach

König, Läufer und Pokale

Sie sammeln Pokale wie andere Kinder in ihrem Alter Bilder von Fußballstars: die fünf Spieler der Schach-Mannschaft der Eduard-Pfeiffer-Schule (EPS) im Gemeindezentrum der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart. Und deren Erfolge kann jeder in Form der silbrig glänzenden Trophäen aufgereiht im Fenster des Büros von Schulleiterin Agnieszka Engelmann sehen.

In diesem Jahr sind noch zwei neue Pokale dazugekommen, denn Lev Delmas, Kapitän der Mannschaft, Daniel Brat­slavski, beide aus der vierten Klasse und zehn Jahre alt, dazu die Zweitklässler Ben Tsafrir und Dan Velkin und schließlich noch der Jüngste und Kleinste, Aviel Gottfried aus der ersten Klasse, haben im März bei der Baden-Württembergischen Schulschach-Meisterschaft den zweiten Platz belegt.

Die Schach-Uhren arbeiten mechanisch

Angetreten gegen 21 Mannschaften, setzten sie die Gegner in vier von sieben Runden schachmatt, spielten zwei Runden Remis und holten dann dank eines 3:2-Sieges von Ersatzspieler Dan Velkin in der siebten Runde den Vizemeistertitel. Damit nicht genug: Bei den Deutschen Jugendeinzelmeisterschaften im Mai in Willingen im Sauerland bewiesen sie ihr Können mit einem fünften Platz. An einem Schabbat. Wie war das möglich? Kein Problem, sie mussten die Schach-Uhren nicht bedienen, die sind mechanisch.

Hinter dem Erfolg stehen zwei Meister ihres Fachs, die hier seit zwei Jahren eine Schach-AG trainieren: Alexander Meinhardt, mit dem Spiel seit Kindertagen vertraut und vor 20 Jahren aus Sibirien nach Deutschland gekommen, und Tatiana Kostak, ebenfalls Meisterin des Weltschachverbandes FIDE, die kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine nach Deutschland floh und hier die neue Aufgabe als Coach am Brett fand.

18 Kinder sitzen am Brett

Denn die Liebe zum königlichen Spiel, das einst in Persien erfunden wurde und nach dem Schah, dem König, benannt ist, verbindet weltweit. »Sie ist die beste Lehrerin der Welt«, zollt Meinhardt ihr Respekt und Bewunderung. »In Kiew«, erzählt Kostak, »gibt es 580 Schulen. Und in allen wird Schach gelehrt.« Da muss aufgeholt werden. In der nach dem jüdischen Stuttgarter Industriellen und Wohltäter Eduard Pfeiffer benannten privaten Grundschule hat man sich das nicht zweimal sagen lassen: Immer donnerstags sitzen hier bis zu 18 Kinder am Brett, konzentriert, ausdauernd, kreativ und ehrgeizig, vier davon sind Mädchen.

An diesem Nachmittag können sich die jungen Spieler nicht so richtig konzentrieren: Es ist zu viel Trubel im Haus – die letzte AG vor den großen Ferien, und zwei Stockwerke höher werden die Viertklässler verabschiedet, die in die weiterführende Schule wechseln. Werden Lev und Daniel dann auch der Schach-AG untreu? Nein, versichern die beiden, kostümiert mit königsblauem Cape und Bommel-Barett, als seien sie gerade in Yale oder Harvard graduiert worden. Das Training im Gemeindezentrum bleibe unverzichtbar. Aber es kann gut sein, dass sie mit ihrer Leidenschaft auch die neuen Mitschüler anstecken. Denn die Begeisterung für Schach hat mittlerweile große Kreise weit über die AG hinaus gezogen.

»Man lernt beim Schach, dass man nicht immer gewinnt«, sagt eine Spielerin.

Angefangen hatte alles mit Corona. Die Schule musste geschlossen werden wie alle anderen auch. »Da haben Schüler begonnen, mit Alexander Meinhardt online Schach zu spielen«, erzählt Eugen Bratslavski. Darunter auch sein Sohn Daniel, in dem der Vater jetzt seinen Meister gefunden hat: »Er ist für mich zu stark und zu anstrengend geworden«, bekennt er lachend. Und ist sichtlich nicht beleidigt, dass er mittlerweile durch den Computer ersetzt wird.

»Mit Alexander Meinhardt wurde die ganze Angelegenheit auf ein professionelles Niveau gehoben«, bescheinigt Bratslavski dem Trainer. Der, ein promovierter Pädagoge und diplomiert in technischen Disziplinen, wollte längst mehr als Schachgruppen leiten: »Ich wollte einen Klub gründen. Weil man nur als Verein an einem Turnier teilnehmen kann.« Als Tatiana Kostak kam, fand er in ihr eine Gleichgesinnte: Zusammen gründeten sie den »Schachclub Strateg Stuttgart«, der als Kooperationsprojekt mit der Schule den AG-Spielern den Weg zu Turnieren eröffnet. Mit Erfolg.

Stolz verweist Meinhardt auf das Klubtrikot: ein schwarzes T-Shirt mit dem Titel und schwarz-weißem Signet mit der angedeuteten Form der Figur Bauer und dem Stuttgarter Fernsehturm. Der Name des Klubs ist Programm: »Wir vermitteln den Kindern, wie wichtig Strategie und Taktik sind«, bringt Meinhardt die Quintessenz des Unterrichts auf den Punkt und spricht von »Fesselung«, »Spieß«, »Gabelangriff« oder »Abzugsschach« – Grundbegriffe, die den Kindern längst geläufig sind.

Stellungen und Spielverläufe

»Es gibt so viele Stellungen und Spielverläufe.« Aber Schach sei viel mehr als ein Spiel. »Es ist auch eine Wissenschaft. Und eine Erziehung fürs Leben.« Denn es lehre strategisches Denken, fördere Konzentration, Kreativität und Ausdauer und mache stressresistent. Wird man durch Schach ein besserer Mensch? »Nicht unbedingt, aber es bildet den Charakter.« Das bemerke er an seinem Sohn.

Die Kinder haben Spaß am Wettstreit, sind ausgelassen und fröhlich an diesem Nachmittag, hochmotiviert, wenn es darauf ankommt, und kennen keine Langeweile. Was gefällt Ben so gut daran? »Dass man auf Zeit spielen kann«, sagt er schnell. Vom Blitzschach bis zur stundenlangen Partie. Die muss man durchhalten. Kann er, macht er: »Ja, klar!« Und ist schon wieder davon.

Sehr ernst aus großen Augen guckt Marta Zabozhanova, eines der vier Mädchen in der AG. Genauso ernsthaft sind ihre Gedanken: »Man lernt, dass man nicht immer gewinnt. Dann will ich mir merken, was ich falsch gemacht habe, und aus den Fehlern lernen«, sagt die Achtjährige.
Ein besseres Vorbild als Tatiana Kostak kann es für die Mädchen nicht geben. Die 52-Jährige ist nicht nur Schachtrainerin der ersten Kategorie, sondern Lehrerin für Mathematik, Informatik und Sport. Anfang September hat sie eine Deutschprüfung, denn sie sucht einen Arbeitsplatz. »Sie wird es schaffen«, ist ihr Coach-Partner Alexander Meinhardt ganz zuversichtlich. Genau wie für die nächste baden-württembergische Schulschach-Meisterschaft: »Die werden wir gewinnen.«

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