Fasching, 1931. Im hessischen Bad Vilbel laufen die Kinder verkleidet durch die Straßen. Hildegard Chambré trägt eine hohe Kochmütze. Ihre große Schwester Lieselotte sieht mit den beiden weißen Blüten im Haar und dem Fächer in der Hand wie eine vornehme Geisha aus. Vater Albert Chambré leitet die örtliche Realschule, seine Frau Gertrud kümmert sich um die beiden Töchter. Im Sommer macht die Familie Urlaub im Odenwald. Zwei Jahre später verändert sich die Lebenssituation der Chambrés dramatisch. Was ist der Familie während der Nazi-Zeit wiederfahren? Haben die Chambrés die Verfolgung überlebt? Bad Vilbeler Schüler oder andere Interessierte in Hessen können jetzt im Internet mehr über das jüdische Leben in ihrer Gemeinde erfahren.
Digital Das Foto-Portal www.vor-dem-holocaust.de versammelt 4.400 digitalisierte Alltagsbilder aus 300 hessischen Gemeinden. Zweieinhalb Jahre lang haben die Pädagogin Monica Kingreen und ihr Team nach Fotos recherchiert, Gesichtern Namen, Motiven Jahreszahlen zugeordnet.
Die »Online-Galerie« zum Anklicken ist ein Gemeinschaftsprojekt des Jüdischen Museums Frankfurt und des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, die Idee dazu hatte Kingreen. »Mehr über das Alltagsleben vor der NS-Zeit zu erfahren und die Veränderungen währenddessen auf der Fotoebene zu sehen, das fand ich immer sehr faszinierend«, berichtet die pädagogische Mitarbeiterin.
Die Arbeit mit Bildern empfand sie als Herausforderung: »Man kann Geschichten von Menschen erzählen. Aber welcher Kategorie ordnet man eine Aufnahme zu?« Genealogen würden viele Informationen vermissen, räumt die Projektinitiatorin ein. Es sei aber nicht der Sinn des Angebots, lineare Biografien nachzuzeichnen. Betrachter könnten sich vielmehr durch die Bildwelten treiben lassen.
Tatsächlich erschließen sich Lebensgeschichten durch die verschiedenen Zusammenhänge, in denen manche Bilder auftauchen: Aufnahmen des Schulleiters Albert Chambré finden sich zum Beispiel nicht nur unter »Bad Vilbel«, sondern auch in der Rubrik »Arbeit«, im Menü »Lehrkräfte«. Das Schicksal der Familie während der NS-Zeit dokumentiert die Rubrik »Familienalbum«: Gertrud, Lieselotte und Hildegard Chambré haben in Holland und England überlebt.
Die nicht-lineare Betrachtungsweise hat Monica Kingreen bewusst gewählt, um die gezeigten Personen nicht gleich als NS-Opfer einzuführen. Ihr geht es um einen Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte, der sich nicht auf die NS-Verfolgung beschränkt. Dies sei in vielen gängigen Lehrmaterialien der Fall, meint die Pädagogin, die auch »Didaktik der Geschichte« an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt. Die Aufnahmen von vor 1933 sind von der Normalität des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden gekennzeichnet.
Urlaubsbilder Die Bilder zeigen etwa Bäcker, Metzger, Ärzte, Wissenschaftler, Lehrer, ein lebendiges Vereins- und Gemeindeleben, Familienporträts und Urlaubsbilder. Die ältesten Daguerreotypien stammen aus dem Jahr 1870. Deutlich getrennt in jeweils eigenen Rubriken liegen die Bilder aus der Zeit der NS-Verfolgung ab 1933 und die der »Reaktionen« darauf: Vereinsgründungen, Selbsthilfeprojekte, Abschiedsfotos anlässlich bevorstehender Auswanderungen.
Rund 15.500 jüdische Menschen wurden deportiert, 500 erlebten die Befreiung. Einige Aufnahmen von 1945 und den folgenden Jahren geben einen Ausblick: »Dass man eine Idee davon hat, dass das Leben irgendwie weitergeht«, begründet Monica Kingreen die Auswahl.
Daneben gibt es noch Fotoserien zu einzelnen Themen oder Familien. Viele Fotos stammen aus staatlichen und lokalen Archiven, aus dem Holocaust-Museum in Washington und aus Yad Vashem. Den größeren Teil hat Monica Kingreen in den USA und Israel »gefunden« – auch mithilfe der guten Kontakte von Dorothee Lottmann-Kaeseler, Mitbegründerin des Wiesbadener »Aktiven Museums für deutsch- jüdische Geschichte« und im Internetportal als Mitarbeiterin aufgeführt.
In einem Internet-Forum für jüdische Genealogie-Freunde veröffentlichten die beiden Forscherinnen den Aufruf »old photos for young germans«. Mit diesem bildungspädagogischen Anliegen und viel Fingerspitzengefühl überzeugten sie schließlich mehr als 100 Familien davon, ihrem Projekt private Fotos zur Verfügung zu stellen. Zu tun bleibt aber auch hierzulande noch genug, sagt Kingreen: »Die Archive liegen voll personenbezogener Daten. Man muss sich nur trauen, etwas herauszufinden«.
www.vor-dem-holocaust.de
Es werden noch weitere Bilder gesucht.
Informationen bei Monica Kingreen, E-Mail:
monica.kingreen@stadt-frankfurt.de,
Telefon: 069/ 21 27 42 38.