Porträt der Woche

Klezmer ist ihre Melodie

Nelli Rayvich spielt Klarinette und ist in der Jüdischen Gemeinde Halle aktiv

von Sophie von Zitzewitz  18.09.2022 08:25 Uhr

Nelli Rayvich (23) engagiert sich für Flüchtlinge und widmet sich in ihrer Freizeit der Musik. Foto: Douglas Abuelo

Nelli Rayvich spielt Klarinette und ist in der Jüdischen Gemeinde Halle aktiv

von Sophie von Zitzewitz  18.09.2022 08:25 Uhr

Meine Zwanziger zeigen mir, dass ich noch gar nichts weiß. Über die Jahre hält mir das Judentum immer mehr vor Augen, wie viel es noch zu lernen gibt. Als beschäftigte man sich mit einem Tropfen im Ozean. Es war für mich schon von klein auf feierlich, die Schabbatkerzen brennen zu sehen.

Irgendwann habe ich angefangen, mich für die eigentliche Bedeutung des »schönen Rituals« zu interessieren. Zu Beginn fühlte es sich für mich an, als ob ich vor einem gigantischen Berg von Lehre stehe. Ich wollte in diese riesige Welt, die sich hinter dem Judentum verbirgt, eintauchen. Vieles aus meiner Kindheit habe ich übernommen, aber viele Gebote sind auch hinzugekommen.

Hintergrund Unsere alte Heimat Czernowitz, im Westen der Ukraine, haben meine Eltern mit mir verlassen, als ich noch ein Kleinkind war. Erinnerungen an meine Geburtsstadt sind mir nicht geblieben.
In Halle galt mein Elternhaus als sehr religiös, nur weil mein Vater einmal in der Woche in die Synagoge ging. Mir selbst kam es gar nicht so vor, weil die Religion immer ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags war.

So gibt es in meiner Familie auch Geschichten von geschmuggelter Mazze, damals in Czernowitz, und wie sich meine Groß- und Urgroßeltern das ungesäuerte Brot heimlich für die Pessach-Feiertage beschaffen mussten. Sie wussten zwar nicht, warum sie Mazze aßen, aber eine Handvoll Traditionen haben sie uns trotzdem mitgeben können. Nach Deutschland begleiteten uns vor allem die ukrainische Musik und viele russische Bücher. Besonders die Klassiker der Weltliteratur waren bei uns zu finden, auch kulinarisch haben wir die Heimat weitergelebt. Borschtsch schmeckt für mich immer nach Zuhause.

Es zog mich in meiner Freizeit immer mehr in die Gemeinde.

Viele Kontingentflüchtlinge aus der Nachbarschaft erzogen ihre Kinder in alter Tradition und im osteuropäischen Geiste. Dazu gehörten das Erlernen eines Instrumentes und viel Gymnastikunterricht, vermittelt mit großen Erwartungen und häufig nicht ohne Druck. Den habe ich bei meinen eigenen Eltern allerdings nie verspürt, und so kam es auch, dass ich neben Klavier auch Klarinette zu spielen begann. Ein Instrument, das mich seit einem Jahrzehnt begleitet. Ambitioniert war ich von ganz allein. Das Bestreben, wenigstens nicht schlechter als andere zu sein, treibt mich schon von allein an. Da braucht es keinen Drill.

Klassik Hätte meine Jugend eine Melodie, würde sie wie Klezmer klingen. Seinen Anfang nahm alles im Konservatorium, wo ich in der Musikschule Klarinette lernte. Sobald ich besser wurde, nahm ich an Klarinettenensembles – Trios und Quartetts – teil. Eine große Leidenschaft wurde zudem das Jugendsymfonieorchester, das uns an Wochenenden häufig in die Welt der Klassik entführte und mir viel Gemeinschaftssinn ermöglicht hat.

In wie viele unterschiedliche Facetten sich ein einziges Stück entfalten kann, je nachdem, wie man es als Gruppe interpretiert, fasziniert mich immer aufs Neue. Die Betonung einzelner Noten, die Lautstärke, das Rhythmusgefühl – zusammen kann man so viel Tolles heraufbeschwören! Eines Tages reichten mir Stamitz, Bach und Mendelssohn Bartholdy allein nicht mehr, und ich sah mich nach neuen musikalischen Herausforderungen um.

Klezmer schien wie ein Fenster zur Freiheit, da man sich hier von vielen alten Regeln befreit und die Musik einem unendlich viel Lebendigkeit und Dynamik beschert. Sowohl die Klassik als auch das Genre Klezmer haben ihren Reiz und ihre Magie, aber gerade der jüdische Part meines Ichs ist von Letzterem beseelt.

schabbaton Die Jüdische Gemeinde von Halle richtet gelegentlich einen Schabbaton aus, und einmal war das Leitthema »Musik im Judentum«. Über ein Wochenende kamen Leute aller Altersklassen mit ihren Instrumenten zusammen, und ich muss gestehen, dass ich wenige Erwartungen an dieses Projekt hatte. Wie überrascht ich war, als wir im Handumdrehen eins wurden und wie verzaubert spielten, kann ich gar nicht in Worte fassen. Das Erlebnis trage ich heute noch in mir. Ich wünschte, es gebe mehr von diesen Veranstaltungen.

Meine Schuljahre plätscherten unaufgeregt dahin: Ich lernte lange Französisch, zeichnete und malte viel. Das HDG-Gymnasium, auf dem ich eine bilinguale Klasse besuchte, präsentierte meine Bilder gelegentlich in der Schulgalerie. Damals gab es in Halle noch keinen jüdischen Religionsunterricht, weshalb es in der Schule nur das Angebot von Ethik, evangelischen oder katholischen Lehrstunden gab. Es zog mich in der Freizeit immer mehr zu unserer Gemeinde. Dort ließ ich mich zur Madricha ausbilden, und heute kann ich stolz sagen, dass ein jüdisches Kind hier Religionsstunden erhält.

Etliche Jahre habe ich als Teil der Chanichim viel von den Veranstaltungen mitgenommen.

Etliche Jahre habe ich als Teil der Chanichim viel von den Veranstaltungen mitgenommen, heute ist es mir wichtig, auch etwas zurückgeben zu können. Das war womöglich auch der Grund, weshalb ich es nach dem Abitur nicht übers Herz brachte, unsere Gemeinde einfach so stehen und liegenzulassen. Ich sehe alle jungen Leute immer nur die Koffer packen, aber wer geht dann noch samstags in die Synagoge? Wer führt das Ehrenamt fort?

Verantwortung Welchen Beruf ich eines Tages ergreifen werde, steht noch in den Sternen. Ich habe mich breit aufgestellt und in Halle Betriebswirtschaft studiert, ebenfalls bilingual. Die Jüdische Gemeinde übertrug mir in dieser Zeit mehr und mehr Verantwortung, in Form von mehr Gestaltungsfreiheit. Doch auch die schöne Illusion von einer größeren Gemeinschaft, von Freunden an Schabbat um den Esstisch herum, denen man in der Synagoge zuwinkt, hielt mir die Kleinstadt-Realität nüchtern vor Augen.

Man kann hier nicht einfach um die Ecke in den Laden gehen und ein Stück koscheres Fleisch kaufen. Gleichgesinnte sind Mangelware, zumindest, was meinen Glauben angeht. Sich seine jüdischen Werte gegenüber Leuten einzugestehen, die am Samstag mit ihrem Instrument ein Konzert aufführen, anstatt wie ich zu Hause Kerzen anzuzünden und Ruhe zu praktizieren, heißt auch, Kompromisse einzugehen.

Ich lasse niemanden gerne hängen und picke auch nicht gerne im Essen herum, wenn ich bei anderen eingeladen bin. Der Schlüssel liegt hier in der Kreativität, sich Freunde zum Schabbat aus anderen Städten einzuladen, deutschlandweit Seminare zu besuchen, am Wochenende mit der einen Freundin nach Leipzig in eine größere Gemeinde zu fahren oder zu einer Party koscheres Essen mitzubringen. Für den Augenblick habe ich mich mit dieser Beschränkung abgetan. Für die Zukunft denke ich an eine größere Stadt.

Flüchtlinge Der russische Angriff auf mein Geburtsland, die heutige Ukraine und damalige Sowjetunion, brachte viele neue Aufgaben mit sich. In Halle vermitteln mich Freunde und Bekannte dieser Tage an Flüchtlinge, die ich bei Behördengängen begleite, ihnen beim Arzt und Elternabend als Übersetzerin zur Seite stehe. Ereignisse wie diese stimmen mich nachdenklich, mein Lebensentwurf wäre schrecklich getrübt, wären meine Eltern damals nicht nach Deutschland gekommen. Aber auch hier lauern ungeahnte Gefahren.

Ich tanze Zumba, spiele Klarinette, engagiere mich in meiner Gemeinde und träume davon, die Welt und insbesondere Israel zu sehen.

Ich tanze Zumba, spiele Klarinette, engagiere mich in meiner Gemeinde und träume davon, die Welt und insbesondere Israel zu sehen. Aber auch, wenn man es gut von sich wegschieben kann, wünschte ich, nicht immer auf Polizeischutz angewiesen zu sein. Es könnte so viel Alltägliches dabei sein, einfach nur eine andere Religion und einen anderen Lebensstil darzustellen. Genau wie den Flüchtlingen kann uns Juden jedoch jeden Tag etwas Grausames passieren. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle hat uns das gezeigt.

glauben Meinen Glauben hat er dennoch gestärkt. Und die Gewissheit, dass mit ihm Wunder geschehen. Er spornt mich an, jeden Tag ein besserer Mensch zu sein, meinen Umgang mit anderen zu hinterfragen und die kleinen Lichtblicke zu sehen. Mit ihm ist mit einer winzigen guten Tat schon ein Schritt in die richtige Richtung getan. Das Leben kann sich gefühlt sehr monoton abspielen, aber nicht wie beim Tanz, der Kunst oder der Musik studiert man im Judentum nur etwas ein, um es dann für Applaus aufzuführen und wieder von vorne zu beginnen.

Man lernt und lebt die Lehre hingegen jeden Tag und kann jedem Wort der Tora unendlich viel Bedeutung und Sinn abgewinnen. Das fehlt unserer Gesellschaft, finde ich, manchmal. Es liegt viel Kurzweil in der Luft, aber mit dem Glauben an etwas Größeres dringen wir in andere Sphären vor und geben unserer Existenz einen Sinn.

Aufgezeichnet von Sophie von Zitzewitz

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