Dass der Patriotismus der deutschen Juden nachgerade sprichwörtlichen Charakter hat, ist eine Binse. Dass deutsche Juden ein besonderes Verhältnis zu ihrer Heimat haben, zu der Region, aus der sie stammen und in der sie lebten, Lokalstolz entwickelten, mag man als logische Folge ihrer Verbundenheit zur deutschen Heimat erkennen, eine Verbundenheit, die freilich immer wieder infrage gestellt oder ihnen gar abgesprochen wurde.
Heimatverlust Darüber informiert eindrucksvoll ein Sammelband über westfälische Juden und ihre Nachbarn – Heimatkunde einmal ganz anders. Was die Manifestationen von Heimatverlust in den Erinnerungen westfälischer Juden im Exil betrifft, findet dies ihren Ausdruck im Titel eines Beitrags von Iris Nölle-Hornkamp: »Es liegt zu viel Sentimentalität in dem Wort Heimat«. Oder es heißt in einem anderen Beitrag mit dem anrührenden Titel: »Seine Landschaften mögen in Israel sein, aber die Bäume sind in Höxter geblieben.«
In diesem Sammelband geht es um ein weites Spektrum deutsch-jüdischer Lebensentwürfe, wie sie sich in der Region Westfalen allenthalben zeigen. Das Buch beschäftigt sich mit den erkämpften Bürgerrechten, dem daraus erwachsenen, zumindest temporär gesicherten Leben, der Mitgestaltung in den Städten und ländlichen Regionen Westfalens – in Dortmund, Bielefeld und Bochum, in kleineren Gemeinden wie Werther und Raesfeld und vielerorts sonst.
Was den Band so ansprechend macht, ist die Vielzahl und die – mitunter zweischneidige – Vielfalt, die sich in den Beiträgen spiegeln, eine sozialgeschichtliche Bandbreite, die sich sehen lassen kann. Die Herausgeberin Iris Nölle-Hornkamp hat die unterschiedlichsten Themen durch die Zeitläufte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart von bereits länger verstorbenen und noch publizierenden ausgewiesenen Autoren und Autorinnen zu einer Edition zusammengestellt, die über eine westfälische Leserschaft hinaus sicherlich eine breite Aufmerksamkeit finden kann.
Landjuden Das Buch greift Themen auf wie die Landjuden im Modernisierungsprozess der letzten beiden Jahrhunderte (Reinhard Rürup), jüdische Akkulturationsvorstellungen im Konzept des Pädagogen Alexander Haindorf (Arno Herzig), jüdische Handwerker in Lippe im 19. Jahrhundert (Klaus Pohlmann) oder Aspekte des jüdischen Vereinswesen in Westfalen (Gisela Möllenhoff).
Ein Beitrag widmet sich dem jüdischen Motorradrennfahrer Leo Steinweg aus Münster. Vorgestellt werden neben prominenten Repräsentanten des westfälischen Judentums auch die »kleijne Leit« – Schlachter, Schuster, Kaufleute, Soldaten, Wandergesellen, Flüchtlinge und die nicht wenigen Maseltovniks, denen als Schützenkönige und sogar Schützenköniginnen kurzzeitige Ehre zuteil wurde.
Programmatisch der Beitrag des früheren, aus dem münsterländischen Warendorf stammenden Zentralratsvorsitzenden Paul Spiegel über das jüdische Leben in Deutschland seit 1946: Volle Kraft voraus. Heim, Heimat, Hoffnung.
Der vorliegende Band ist zugleich das Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Westfalen, die noch bis 16. Mai 2015 in Dorsten zu besichtigen ist.
Iris Nölle-Hornkamp (Hg.): »Heimatkunde. Westfälische Juden und ihre Nachbarn«. Klartext, Essen 2014, 287 S., 22,95 €