Die Stimme von Jonas Hauer klingt weich und freundlich. Fast meint man wahrnehmen zu können, wie ein Lächeln um seine Lippen spielt. »Könnt ihr hören, wie der Raum aussieht, in dem wir uns befinden?«, fragt er die acht Schüler, die um ihn herum stehen. Hauer schnippt mit den Fingern. Der Klang dehnt sich aus und hallt an den Wänden eines Schachts wider. Eine Treppe führt hinab in den Untergrund.
Wer sich von Hauer durch das Jüdische Museum führen lässt, der ist auf sein Fingerschnippen angewiesen, das einem den Weg durch die Dunkelheit weist. Seit Februar bietet das Museum vierteljährlich Führungen für Blinde an. Derartige Angebote seien ein wichtiger Schritt, um Kultur barrierefrei zugänglich zu machen, erklärt Paloma Rändel, Sprecherin des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins.
Allerdings gelte für Blinde wie für Sehende, dass Führungen nur eine Ergänzung seien, betont Rändel. Museen müssten aus sich selbst heraus verstanden werden können. Ein Ansatz, den der amerikanische Architekt Daniel Libeskind zum Leitgedanken seines Entwurfs für das 2001 eröffnete Museum gemacht hat. Noch vor der Eröffnung wurde Libeskind dafür mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet.
Unsicher Am unteren Treppenabsatz angelangt, verändert sich das Echo. Es klingt kurz und gedämpft. Man spürt die nahen Wände, die niedrige Decke. Nur ein Gang führt weiter: die »Achse des Exils«. Das Gehen fällt merkwürdig schwer, die Schritte sind unsicher. Es ist, als müsse man gegen innere Widerstände angehen. Wer sich an einer Wand anlehnen will, findet auch dort keinen Halt. Das tastende Ticken von Hauers Blindenstock stoppt.
Als er fragt, ob den Zehntklässlern etwas an dem Gang auffalle, dauert es einen Moment, bis jemand sagt: »Der Boden hier ist schief.« Tatsächlich steigt der Weg sanft an. Und ein wenig scheint er sich nach links zu neigen. Beim Weitergehen verkürzt sich das Echo von Jonas’ Fingerschnippen. Die Decke kommt immer näher. Kurz vor der schweren Stahltür, die in den »Garten des Exils« führt, ist die Decke so niedrig, dass man sie berühren kann.
Hauer erzählt von den Schwierigkeiten des Auswanderns. Alles müsse man zurücklassen, alle Verbindungen trennen. »Die ganze Zeit ist man verführt, wieder zurückzugehen«, beschreibt einer der Schüler das Gefühl auf diesem Weg.
Lindenstraße Draußen weht eine frische Brise, ein Rasensprenger spritzt mit einem zischendem Stakkato Wasser auf den Rasen. Leise trommelnd landen ein paar Spritzer auf den Schuhen. Man hört die Autos auf der Lindenstraße, das Zwitschern von Spatzen. »Für Blinde ist der Garten nicht so verwirrend wie für Sehende«, meint Hauer. Die Tür liege am niedrigsten Punkt. »Wenn ihr nicht mehr weiter wisst, dann lauft einfach nach unten.«
49 hohe, quadratische Betonsäulen stehen auf der einzigen quadratischen Fläche in dem Konzept von Libeskind. Aber natürlich sei auch das nicht so, wie man es erwartet, warnt Jonas die Schüler. Die Ebene samt den Säulen ist leicht geneigt. Wie Betrunkene wanken die Zehntklässler zwischen den Säulen hin und her.
Das Gehen fällt schwer. Der glatte Beton der hohen Säulen ist kühl; von feinen Rissen und Luftbläschen durchzogen. Libeskind habe damit deutlich machen wollen, meint Jonas, dass die Strukturen im Exil einem zwar vertraut vorkommen mögen, sie aber doch fremd sind, man sich unsicher fühlt und sich nicht zurechtfindet. Die Schüler murmeln zustimmend.
schoa Der nächste Gang ist dem ersten sehr ähnlich. Auch die »Achse des Holocaust« steigt sanft an und kippt leicht nach rechts. Auch hier kommt die Decke immer näher. Auf halber Strecke kreuzt man kurz die »Achse des Exils«. Man hört die Menschen auf dem Weg nach draußen in den Garten. Am Ende des Ganges schlägt donnernd eine schwere Tür ins Schloss. Geradewegs führt die Achse auf die Tür zu.
Links an der Wand tauchen Schriftzüge von Lagern auf. Die glatten Buchstaben sind deutlich fühlbar an die Wand geklebt. Theresienstadt, Auschwitz, Lublin-Majdanek. Wieder fällt die Tür krachend ins Schloss. Treblinka, Sobibor, Bergen-Belsen. Die schwere Stahltür geht auf und fällt schließlich mit Donnergrollen zu. Das Echo hallt fast fünf Sekunden.
Dann herrscht Stille. Straßenlärm, Vögel und der Rasensprenger sind in weiter Ferne zu hören. Der Betonboden federt ganz leicht, jeder Schritt erzeugt einen dumpfen Klang, der sich langsam in dem hohen Turm nach oben windet und erst nach einer halben Ewigkeit verhallt. Die Schüler tasten sich an den kalten Betonwänden des »Holocaust-Turms« entlang und drängen sich kurz im spitzen Winkel am Ende des Raumes zusammen.
Die Ausstellungsräume, die auf der »Achse der Kontinuität« liegen, will Hauer der Gruppe heute nicht mehr zeigen. Er, der eigentlich Pianist ist, möchte den Klang des Gebäudes vermitteln. »Ich bin sicher, dass Libeskind ganz bewusst auf die Akustik seiner Räume geachtet hat«, sagt er und führt die Gruppe zu einem weiteren Schacht. Zögernd wagen sich die Ersten vor. Der Boden ist uneben und wacklig. Jeder Schritt erzeugt ein metallisches Klirren.
Kadishman Bald laufen alle Schüler über die Installation »Gefallenes Laub« des israelischen Künstlers Menashe Kadishman. Der tosende Lärm hallt in dem Schacht wider, der sich über der Installation erhebt. 10.000 aus Eisenplatten geschnittene Gesichter liegen hier in mehreren Schichten übereinander.
Die Schüler heben die unterschiedlich großen Gesichter hoch. Manche sind so schwer, dass man sie kaum aufnehmen kann. Die Jugendlichen befühlen das kalte Metall und atmen den rostigen Geruch. Seltsam fühlt es sich an, über Gesichter zu laufen, scheint ihr anfängliches Zögern zu sagen. Bald machen die Schüler an der Von-Vincke-Schule für Blinde und Sehbehinderte in Soest ihren Realschulabschluss.
Immer wieder müssen sie sich dann auf ihre Ohren verlassen und sich selbstständig über den Rand des Bekannten hinaus tasten – vielleicht werden sie sich an ihre Erfahrung im Jüdischen Museum erinnern.
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