Ein kleiner Junge freut sich über den Schnee. Er winkt aus dem Fenster seinen Tanten zu und spielt mit der Eisenbahn. Wenn er Spaß machen will, schneidet er Grimassen. Die Aquarellzeichnungen in dem braungebundenen Kinderbuch zeigen Alltagsszenen in hellen, fröhlichen Farben.
Das Buch, das jetzt neu aufgelegt wurde, stammt von Bedrich Fritta und ist ein Geburtstagsgeschenk für den kleinen Tommy zu dessen drittem Geburtstag. Auf einigen der bunten Bilder, die mit kurzen Texten in tschechischer Sprache versehen sind, ist eine Nummer zu lesen: 710. Am Ende des Bilderreigens heißt es: »Dieses Buch ist das erste in der langen Reihe von Büchern, die ich dir noch malen will!«
Ghetto Fritta sollte keine Gelegenheit bekommen, dieses Versprechen zu halten. Der jüdische Karikaturist und Vater von Tomáš stirbt am 4. November 1944 in Auschwitz. Sein Sohn und seine Frau bleiben im Ghetto Theresienstadt zurück. Im Februar des Jahres 1945 stirbt auch Johanna Fritta.
Der Dreijährige mit der Lager-Insassennummer 710 ist allein. »Mein Vater ließ das Buch nur ungern aus den Augen. Irgendwie war es immer in seiner Nähe«, erinnert sich David Haas, der Sohn des vor wenigen Monaten verstorbenen Thomas Fritta-Haas. Zurückhaltend und sichtlich gerührt blickt er in den Saal der Ostdeutschen Galerie in Regensburg. Gut 150 Menschen, darunter Vertreter aus Politik, Kunst und Kultur, haben sich an diesem heißen Sonntagvormittag versammelt, um eine bewegende Geschichte zu hören – vom Schicksal eines Menschen und eines Buches.
»So wie Dietrich Bonhoeffer im Lager mit seinem berühmt gewordenen Liedtext ›Von guten Mächten treu und still umgeben‹ gegen das Grauen um ihn herum kämpft, malt Bedrich Fritta gegen das Böse an. Es ist ein Mutmach-Buch für seinen Sohn«, sagt Walter Koschmal, Slawistikprofessor an der Universität Regensburg und Herausgeber des nun neu aufgelegten Buches.
Grafiken Fritta wurde gezwungen, in der Technischen Abteilung des Ghettos Theresienstadt als Zeichner für die Propaganda-Maschinerie der Nazis zu arbeiten. Gemeinsam mit anderen internierten Künstlern, darunter Leo Haas, Otto Ungar und Ferdinand Bloch, hielt er heimlich in düsteren Grafiken das wahre Gesicht des Lagers fest.
Seine Werke sind karge Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit harten Strichen von hungernden, ausgemergelten Menschen. Der Rabbiner Leo Baeck bezeichnete Theresienstadt einmal als einen Ort, an dem »der Daseinsraum durch den Sterberaum« ersetzt worden sei. Für seinen Sohn wollte Fritta dennoch ein wenig Normalität schaffen und malte ein Buch, in dem die tatsächlichen Lebensumstände nur angedeutet werden. Die geheimen Aktivitäten des Künstlers wurden entdeckt. Nach Verhör und Folter folgte die Deportation nach Auschwitz.
Zuvor war es Fritta gelungen, das Buch, gebunden in einen Kartoffelsack, in einem Metallbehälter zu vergraben. Das Versteck kannte nur sein Freund Leo Haas, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebte. Sofort nach dem Krieg reiste Haas nach Theresienstadt, fand das Buch unversehrt und adoptierte den verwaisten Tommy.
Lebensgeschichte »Der Einband war ganz rau. An dieses Gefühl an den Fingern, wenn man das grobe Sackleinen anfasste, kann ich mich noch gut erinnern«, sagt Michal Foell, das jüngste der drei Haas-Kinder. »Wir haben schon früh von der Lebensgeschichte unseres Vaters erfahren.
Das Buch war immer im Bewusstsein unserer Familie, auch wenn wir natürlich nicht jeden Tag darüber gesprochen haben.« Sie sei ihrem Opa ähnlich, habe ihr Vater gefunden. Denn die Trainerin für Kommunikation hat offenbar das künstlerische Talent ihres Großvaters geerbt: Sie machte zunächst eine Ausbildung zur Fotografin. »Heute zeichne ich zwar keine Bilder, sondern Flipcharts, aber die Verbindung ist da!«
Michal und ihre Brüder Daniel und David wurden alle in Israel geboren, wuchsen jedoch in Mannheim auf, wo sich Thomas Fritta-Haas mit seiner Familie Mitte der 70er-Jahre niederließ. »Mein Vater hat uns immer gesagt, er habe nur überlebt, weil er ein so humorvoller Mensch gewesen sei. Da war er sich ganz sicher«, erzählt seine Tochter. In ihrer Stimme schwingt Rührung, vor allem aber Lebensfreude. »Das ist es, was wir unseren Kindern, seinen Enkeln, weitergeben werden. Und natürlich das Buch.«