Sie kommen aus Odessa nach Berlin: Am Freitagvormittag sind in der deutschen Hauptstadt über 100 Kinder aus einem jüdischen Waisenhaus eingetroffen. Die Busse mit Kindern und Betreuern seien in Charlottenburg angekommen, teilte das Jüdische Bildungszentrum Chabad Lubawitsch Berlin mit, das die Aktion organisiert.
»Wir konnten eine Unterkunft für die erste Woche sichern und durch die großartige Hilfe aus der Gemeinde genug Sachspenden sammeln«, sagte Rabbiner Yehuda Teichtal. »Wir haben die Kinder mit offenen Armen empfangen.«
Am Montag will sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit den geflohenen Kindern treffen. Steinmeier wird dabei von Rabbiner Teichtal begrüßt, wie das Bundespräsidialamt am Freitag in Berlin mitteilte. Der Bundespräsident will demnach die Kinder und ihre Betreuer besuchen und mit ihnen gemeinsam Mittagessen.
Die Waisenkinder sind am Freitag in Berlin angekommen. Sie waren von ihrem jüdischen Waisenhaus in Odessa rund drei Tage unterwegs. Die Kinder werden vorerst in einem Hotel untergebracht.
HILFE Odessa liegt circa 200 Kilometer westlich vom südukrainischen Cherson – diese Großstadt wurde laut Berichten bereits von der russischen Armee eingenommen. Die Aufnahme der Waisenkinder in Berlin ist ein Aspekt jüdischer Hilfe für ukrainische Flüchtlinge beziehungsweise für Juden und Nichtjuden, die mitten im Krieg in dem Land ausharren.
So leisten beispielsweise die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und ihre Partnerorganisation IsraAID Germany psychosoziale Unterstützung. Aron Trieb von IsraAID Germany hatte am Tag des russischen Angriffs der Jüdischen Allgemeinen gesagt, dass Mitarbeiter vor allem im Osten des Landes unterwegs und nicht nur für Juden da sind.
Der Präsident des Verbands der jüdischen Gemeinden und Organisationen der Ukraine mit über 250 Gemeinden, Josef Zissels, sagte der Jüdischen Allgemeinen, dass man sich auf unterschiedliche Szenarien vorbereite: Ausfall von Telefon, Internet und Strom, Zusammenbruch des Bankensystems.
medikamente Es gibt weitere Berichte, wonach der ukrainischen Armee Medikamente zur Verfügung gestellt werden, Juden helfen wollen, ihre Heimat zu verteidigen, Rabbiner in der Ukraine auf einen Kriegsstopp dringen und Russlands Oberrabbiner Berel Lazar zu Frieden aufruft und sich als möglichen Vermittler anbietet. In Polen nehmen jüdische Gemeinden Flüchtlinge auf, und auch in Gemeinden in Deutschland läuft Hilfe.
Hinzu kommt, dass hierzulande Juden um Angehörige und Freunde bangen. Denn im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion kamen Zuwanderer nach Deutschland, viele aus der Ukraine und aus Russland. Der Zentralrat der Juden in Deutschland nennt unter Berufung auf Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge die Zahl von rund 200.000 Menschen jüdischer Abstammung, die seit 1989 aus der Ex-Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind.
Angesichts der Lage veröffentlichte der Zentralrat kürzlich einen von Präsident Josef Schuster unterzeichneten Brief. Darin heißt es, dass der Zentralrat über Aufnahmemodalitäten für ukrainische Juden mit der Bundesregierung im Gespräch sei. Schuster rief auch zum Zusammenhalt innerhalb der Gemeinden auf: »Wir müssen über politische Ansichten diskutieren und streiten können, aber immer respektvoll und ohne, dass der Konflikt einen Keil zwischen uns treibt.«
spaltungen Auch Gemeinden selbst wenden sich gegen mögliche Spaltungen. So sagte etwa die Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde Freiburg, Irina Katz, im Gespräch mit dieser Zeitung: »Ich möchte nicht, dass es bei uns in der Gemeinde wie während des ersten Ukraine-Krieges 2014 abläuft, als es eine gemeindeinterne Auseinandersetzung zwischen ›Russen‹ und ›Ukrainern‹ gab.« Rund 80 Prozent der Gemeindemitglieder stammten aus der Ukraine, andere kämen aus Russland. Katz betonte: »Wir sind alle Juden« – unabhängig von der Herkunft.
Unabhängig von der Herkunft: International lösten Bombeneinschläge nahe der Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew im Zuge eines Angriffs auf den Fernsehturm heftige Kritik und Empörung aus, allen voran beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der selbst Jude ist. Die Gedenkstätte erinnert an eines der größten deutschen Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg im Jahr 1941 mit mehr als 33.000 Toten.
Zurück nach Berlin, wo bei Chabad die Waisenkinder angekommen sind. »Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um ihnen die Strapazen der Flucht und der langen Reise erträglicher zu machen«, betont Rabbiner Teichtal. ja/kna