»Es sind verrückte Zeiten«, sagt Gideon Joffe. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sitzt gemeinsam mit den Machern der Jüdischen Kulturtage in der Synagoge Rykestraße. Es ist Montagvormittag, statt Gebetsbesuchern haben Pressevertreter in den Sitzreihen Platz genommen.
Die Corona-Pandemie, antisemitische Anschläge – es gebe vieles, was ihm Sorge bereite, sagt Gideon Joffe. »Es herrscht eine ziemlich starke Verunsicherung, in welcher Welt sind wir eigentlich gelandet?«, fragt er. Trotz all der Krisen hofft er, dass die Kulturtage vom 7. bis 15. November wie geplant stattfinden können.
»SPEED-DATING« Die Besucher würde ein »Speed-Dating mit dem Judentum« erwarten, sagt der Gemeindevorsitzende. Einem Judentum, das positiv und lebensbejahend sei. Nur die Wenigsten würden diese Seite kennen. »90 Prozent der Menschen lernen das Judentum über die Schoa kennen – aber nicht darüber hinaus«, meint Gideon Joffe.
Geplant sind insgesamt 21 Konzerte, Lesungen und Theatervorstellungen an verschiedenen Spielorten der Stadt. Auch ein interreligiöser Poetry Slam soll stattfinden, an dem eine jüdische Künstlerin, eine angehende Pfarrerin und ein im Islam aufgewachsener Buddhist teilnehmen werden. »Sie werden sich mit dem Thema Religion im Allgemeinen und dem Judentum im Speziellen auseinandersetzen«, sagt Jesko Habert von den Kiezpoeten, der den Abend moderieren wird. Dabei bestehe künstlerische Freiheit, »wir werden die Texte nicht zensieren«, sagt Jesko Habert.
Konzerte, Lesungen, Filmabende und eine Kinderoper finden nur mit Hygienekonzept statt.
Dass Poetry Slam eine interessante Kunstform ist, betont Gerhard Kämpfe. Der Intendant der Jüdischen Kulturtage Berlin wird während des Festivals auch selbst auf der Bühne stehen. Im Renaissance-Theater sind gleich zwei Veranstaltungen mit ihm geplant. Dabei werde es viel zu lachen geben, verspricht der Intendant. Er liebe es, Menschen zu unterhalten. Humor gehöre zum Judentum schon immer dazu, sagt Gerhard Kämpfe.
HUMOR »Das Besondere am jüdischen Humor ist, dass man trotzdem lacht«, meint die Schauspielerin und Musikerin Sharon Brauner, die ihm auf der Bühne Gesellschaft leisten wird, gemeinsam mit Karsten Troyke, Winnie Böwe, Nadine Schori und einigen anderen. »Und wir sollten jetzt mehr lachen als je zuvor«, sagt die gebürtige Berlinerin.
Erwartet werden auf dem Festival außerdem Gäste aus Israel. »Wir hoffen sehr, dass bis dahin der Lockdown aufgehoben wird und wir sie nach Berlin holen können«, sagt Gerhard Kämpfe. Geplant sind Konzerte mit der Sängerin Noa, der Band Jewish Monkeys und dem internationalen Entertainer und Broadway-Star Dudu Fisher.
Trotz aller Unsicherheiten sei der Ticket-Vorverkauf bereits gut angelaufen, sagt Intendant Kämpfe. Mitte Oktober erwarte er konkretere Informationen von den Behörden. »Wir arbeiten eng mit ihnen zusammen«, sagt er. Dass er noch nicht weiß, ob er die Gäste aus Israel einfliegen lassen kann, bereite ihm Kopfschmerzen. Er hofft, dass diese Frage Mitte Oktober geklärt wird.
BLASE Der gebürtige Hamburger, der seit 1969 in Berlin lebt, leitet die Kulturtage in diesem Jahr zum fünften Mal. Seit 1987 finden sie in Berlin jährlich statt. »Kulturelle Aktivitäten sind eine hervorragende Möglichkeit, damit sich Juden und Nichtjuden begegnen«, meint der erfahrene Organisator von Großveranstaltungen. Er hofft, dass aus der Begegnung gegenseitiges Verstehen und Akzeptieren entsteht.
Im Alltag würden diese Begegnungen größtenteils nicht stattfinden, viele lebten in ihrer Blase. »Das ist natürlich kompliziert. Ich denke, man sollte grundsätzlich als Bürgerin und Bürger in unserem Land, aber nicht nur in unserem Land, nicht wirklich in einer Blase leben«, sagt Gerhard Kämpfe. »Wir haben eine Ordnung, die wir alle akzeptieren können, und die heißt Human Rights. Innerhalb dieser Ordnung sollte eben auch jede Religion und jeder Kulturkreis einen möglichst großen Freiheitsraum haben. Die Grenze ist der jeweilige Freiheitsraum des anderen.«
Die Kulturtage sind eine Gelegenheit für Begegnungen, die sich im Alltag selten ergeben.
Auch außerhalb des Kulturbereichs sieht er Chancen, wie das gegenseitige Kennenlernen mehr gefördert werden kann. »Da bieten sich natürlich die Schulen an. Ich denke, dass der Geschichtsunterricht ein wesentliches Element ist. Da die letzten Überlebenden der Schoa leider bald nicht mehr unter uns weilen werden, muss die nächste Generation übernehmen. Ich denke aber, es geht nicht nur um die tragische Geschichte der Juden, sondern auch grundsätzlich um die Themen Ausgrenzung, Rassismus und Xenophobie.«
BALAGAN-DAY Im öffentlichen Diskurs sieht er noch viel Raum für Verbesserung: »Ich würde mir wünschen, dass es mehr um das Aufeinanderzugehen als um die Abgrenzung geht.« Die Kulturtage versteht er als ein Angebot des Aufeinanderzugehens. Er hofft, dass das Festival wie auch in den Vorjahren von den Berlinern gut angenommen wird.
Programm gebe es für alle Altersstufen: auf der einen Seite Konzerte, Lesungen und Filmabende für Erwachsene und auf der anderen Seite eine Kinderoper für die jüngere Generation. Auch eine Fotoausstellung über Tel Aviv sei Teil der 33. Festival-Ausgabe.
Nicht zu vergessen sei darüber hinaus der traditionelle Balagan-Day im Gemeindehaus in der Fasanenstraße. »An diesem Tag der offenen Tür wird den Besuchern ein Tagesprogramm für die ganze Familie geboten«, heißt es in der Programmankündigung. Geplant sind eine Einführung in die vegetarische und orientalische Speisekultur, ein Vortrag mit Informationen und Geschichten rund um die Vergangenheit und Gegenwart des Hauses sowie Bastel- und Spielaktionen für die Kleinsten.
STADTGESCHICHTE Auch an stadtgeschichtlich Interessierte wendet sich das Festival in diesem Jahr: Wer mehr über das jüdische Leben in Berlin vor, während und nach der Nazi-Herrschaft erfahren möchte, kann sich der Stadtführung mit Nirit Ben-Joseph anschließen. Welchen Einfluss hatte und hat die jüdische Gemeinschaft auf das Leben in der Stadt? Was machte und macht das jüdische Leben in Berlin aus? Ganz coronakonform wird die Tour an der frischen Luft stattfinden.