Es wird flacher und flacher. Wind pfeift, strahlender Sonnenschein und düstere Regenschauer wechseln sich im Fünfminutentakt ab. Schilder kündigen die Nordseeinseln Spiekeroog und Wangerooge an. Kurz vorm Deich steht die Jugendherberge Neuharlingersiel – eine Ansammlung von Backsteingebäuden mit norddeutschem Flair. Vor dem Eingang flattert die Limmud-Fahne. Hier ist definitiv nicht mehr Brandenburg.
ANREISE Das jüdische Lernfestival ist umgezogen. Statt am Werbellinsee in Brandenburg findet es in seinem achten Jahr in Neuharlingersiel statt – eine kleine Weltreise für viele der rund 400 Teilnehmer. Fast acht Stunden brauchte der Bus aus Berlin hierher, eineinhalb Stunden der Shuttle-Bus ab Oldenburg. »Wenn man aus dem Süden kommt, ist es noch weiter weg«, sagt die Reutlingerin Sylvia Schliebe. »Aber es lohnt sich.«
Tatsächlich hatten die Planer kein Problem, genug Anmeldungen zusammenzubekommen. »Das hat uns selbst ein bisschen überrascht«, sagt Jonathan Marcus vom Limmud-Team. Zwar seien diesmal weniger Berliner dabei, dafür mehr Niedersachsen, Rheinländer und Westfalen. Der liberale Rabbiner Jona Simon lebt in Oldenburg, ist zum ersten Mal bei Limmud und findet: »Es wird Zeit, dass die Berliner sehen, dass es in Deutschland auch außerhalb von Berlin jüdische Veranstaltungen gibt.«
Donnerstagabend Dutzende Ankömmlinge drängeln sich um die zwei Tische in der Lobby der Jugendherberge, entdecken bekannte Gesichter, schauen sich neugierig um. Schnell entsteht das typische Sprachengewirr aus Deutsch, Englisch, Russisch und Hebräisch. Und schnell wird es hektisch: Babybetten fehlen, Zimmer werden getauscht, Schlüssel gesucht, Fragen gestellt. »Die meisten Probleme sind da aufgetaucht, wo wir noch keine Erfahrungen hatten, also vor allem bei den Zimmern«, erklärt Organisator Jonathan Marcus. »Aber wir haben damit gerechnet, und es sind Kleinigkeiten geblieben.«
Die Idee von Limmud ist, dass jeder Schüler und Lehrer zugleich ist und das Festival mitgestaltet. Viele folgten diesem Aufruf und meldeten sich als Freiwillige für Küchendienst und Tech-Support, für Kinderbetreuung und Workshops oder zeigten ihre Talente abends auf der offenen Bühne. ELES, das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, war mit 22 Stipendiaten vertreten, die sich alle aktiv beteiligten.
»Ich war froh, dass alle so gut mitgemacht haben, trotz langer Anreise«, sagte Stipendiatin Alona Dubova, die gemeinsam mit ihrer Schwester Maria einen Workshop zu Erlebnispädagogik anbot. »Für die Stipendiaten ist es eine gute Möglichkeit, sich in einer Öffentlichkeit mit ihren Themen zu erproben«, meint ELES-Referentin Eva Lezzi. »Und trotzdem ist es in einem relativ geschützten Raum.« Das Begabtenförderungswerk übernimmt dafür die Teilnahmegebühr.
Fragen Darf man dafür beten, dass ein geliebter Mensch stirbt? Warum sollten sich Juden für Menschenrechte einsetzen – auch im Westjordanland? Wie können kleine Initiativen Erfolg haben? Wie malt man eine Ketuba? Droht der Untergang des deutschen Judentums? Was sagen die Texte zu Social Freezing, Abtreibung und Sterbehilfe? Wie viel Antisemitismus steckt in Medienberichten und Schulbüchern?
Das sind nur einige der Themen, die am Wochenende diskutiert wurden – mit Rabbinern, Historikern, Studenten, Aktivisten, während der Seminare und auch in den Pausen. »Die Vorträge waren gut vorbereitet, es gab schöne Diskussionen«, sagte Rabbinerin Alina Treiger, die zum ersten Mal dabei war. »Ich habe sehr viel für mich mitgenommen.«
Studentin Alona Dubova hätte sich noch mehr Workshops und Vorträge gewünscht. Und auch Limmud-Veteranin Nadia Shapiro beobachtete: »Sonst gab es immer einen Starredner. Aber das war für die anderen nicht fair. Dieses Jahr war das anders, und dadurch haben sich die Leute auch besser verteilt.« Shapiro ist mit ihrer Familie zum siebten Mal bei Limmud, aber das erste Mal an der Nordsee. »Das Programm war gleich, aber die Facility ist besser«, fand ihr 14-jähriger Sohn David. Seinem vier Jahre jüngeren Bruder Avraham gefiel die Wattwanderung der Kinder besonders gut.
Kinder Über 100 Kinder waren dieses Jahr bei Limmud, mehr als je zuvor. »Es ist so familienkonform hier, ein bisschen kibbuzmäßig«, findet Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Eva Lezzi, die ihren zwölfjährigen Sohn mitbrachte. »Den sehe ich fast gar nicht.« Besonders für die älteren Kinder habe ihr das weitläufige Waldgelände am Werbellinsee besser gefallen. »Das war mehr Abenteuer.«
Jonathan Marcus findet jedoch, die Jugendherberge an der Nordsee sei gerade für Familien mit jüngeren Kindern deutlich besser geeignet. »Ein großer Vorteil hier ist die Zugänglichkeit. Die Wege sind kürzer, es gibt weniger Treppen und immer wieder Ecken, wo man sitzen und reden kann.« Und auch die Sicherheit sei auf dem kompakten Gelände leichter zu gewährleisten.
»Es ist auf jeden Fall sehr familienfreundlich«, meint auch die junge Mutter Wiebke Rasumny. »In den Gemeinden hat man doch eher das Problem, dass da nur alte Opis sitzen. Das ist hier anders.«
Mafroum, Tscholent, Taboulé, Omelette, Salate, Spinatküchlein, belegte Bagel und Unmengen von Desserts – alle paar Stunden tischte die Cateringfirma »Elfenbein« aus Berlin Neues auf. »Das Essen war exzellent, das Beste, das ich je irgendwo gegessen habe«, lobte Politikprofessor Lev Khanin aus Israel. 170 Euro pro Person kostet das koschere Essen für das viertägige Wochenende.
Vorbereitungen Damit das möglich war, traf das Team von Avi Toubiana schon am Wochenende vorher ein, kascherte die Küche und lernte die Mitarbeiter der Jugendherberge an. Auch für die Caterer war die neue Location eine Umstellung. »Wir sind verwöhnt. In Berlin bekommst du alles an jeder Ecke, und hier ist Pampa«, erzählt Toubiana. Tausende Kilometer weiter sei sein 14-köpfiges Team gefahren, um Lebensmittel und Equipment nach Neuharlingersiel zu schaffen und vor Ort genügend Gemüse, Eier und Sojamilch zu organisieren. Trotzdem sagt er: »Es war viel einfacher als zuvor.« Gerade die Mitarbeiter der Jugendherberge seien sehr freundlich, engagiert und hilfsbereit gewesen. »Es ist eben eine wunderschöne Pampa. Und Berlin könnte sich vom Service eine Scheibe abschneiden.«
»Die Leute sind begeistert, und wir sind sehr zufrieden«, sagte Organisator Jonathan Marcus zum Schluss. »Dadurch, dass die Anlage so schön ist und die Leute hier so engagiert, fühlt man sich einfach viel wohler.« Für ihn war der »Testlauf« erfolgreich. »Zu sehen, dass alles klappt, ist toll«, sagte Nicole Kubitz, stellvertretende Leiterin der Jugendherberge. »Es war eine Umstellung, aber wir haben ganz viel dabei gelernt.« Alina Treiger ist »völlig begeistert«, für sie war es »eine sehr schöne Erfahrung mit einem Hauch von Nordsee.«
Und Sylvia Schliebe findet: »Die Vorstellung, nächstes Jahr nicht zurückzukommen, geht eigentlich gar nicht. Du brauchst Limmud grundsätzlich einmal im Jahr – für die Zeit dazwischen.«