Vogelgezwitscher dringt von draußen in die improvisierte Synagoge – die alte Disco der Europäischen Jugendbegegnungsstätte am Werbellinsee. Ein zur Bima umfunktionierter Tisch wird kurzerhand ein Stück nach vorne geschoben, damit auch eine Beterin, die schlecht laufen kann, direkten Zugang zur Torarolle bekommt.
Beim 7. deutschen Limmud-Festival haben Rabbinerin Gesa Ederberg aus Berlin und ihr Masorti-Team schon am Freitagmorgen ab acht Uhr den Schacharit-Gottesdienst zu Rosch Chodesch, dem Beginn des jüdischen Monats Siwan, gestaltet.
Zur gleichen Zeit hatte sich in Haus 7 des weitläufigen Geländes, das idyllisch im Grünen gelegen ist, der orthodoxe Minjan versammelt. 15 Männer ganz unterschiedlichen Alters, unter ihnen Rabbiner Arie Folger, Nathanael Wurmser und Saul Freiberg, beten gemeinsam Schararit. Ihr melodiöser Gesang dringt nach draußen, auf die Wiese.
Atmosphäre Gleich daneben liegt Haus 8, wo kurze Zeit später die kleinen Kinder auflaufen werden, für die die Betreuer von »Bambinim« aus Berlin ein eigenes Programm gestalten. Es ist eine Atmosphäre, die auch Menschen in einer ganz eigenen Weise berührt, die sonst nicht regelmäßig jüdische Gotteshäuser besuchen.
400 Juden aus ganz Deutschland, Israel und anderen Ländern haben sich hier, in der Brandenburger Schorfheide, seit Donnerstagnachmittag und noch bis Sonntagnachmittag versammelt, um miteinander zu diskutieren und voneinander zu lernen.
»Die Sonne scheint, die Location liegt mitten im Grünen, die Atmosphäre ist entspannt«, sagt der Limmud-Vorsitzende Jonathan Marcus. Nach diversen Jahren Erfahrung wirkt das Limmud-Team – alles Freiwillige – tatsächlich so erfahren, dass das Chaos mancher früherer Limmud-Festivals – fehlende Schlüssel, doppelt belegte Zimmer – der Vergangenheit anzugehören scheint.
Und sobald die Gäste, so verschieden sie auch sein mögen, sich auf Gespräche einlassen, in denen sich fast alle untereinander freundlich, neugierig und respektvoll begegnen, wirken manche Probleme des Alltags wie aus einer anderen Welt. Selbst dass die Seile des Eruv, des Schabbatbezirks, noch am späten Freitagnachmittag erneut an dem einen oder anderen Baum befestigt werden müssen, nimmt Rabbiner Arie Folger mit Gelassenheit.
Hebrew Space Dabei geht es in den Seminaren und Diskussionen durchaus ans Eingemachte: Gusti Yehoshua-Braverman, Vorsitzende der Abteilung für Diaspora-Aktivitäten der World Zionist Organization (WZO), spricht illusionslos über die veränderten Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora. Sie bedauere sehr, dass sich vor allem Angehörige der jüngeren jüdischen Generationen zunehmend von Israel entfremdeten, sagt Yehoshua-Braverman, die zum ersten Mal an Limmud teilnimmt und dabei das von der WZO entwickelte Konzept des »Hebrew Space« vorstellt: ein spezielles Angebot für Israelis, die in Deutschland leben, aber auch für alle anderen, die an der hebräischen Sprache interessiert sind.
Bei Limmud präsentieren Braverman und ihr Team, darunter der Israeli Rotem Malach, unter historischen zionistischen Plakaten täglich Iwrit-Klassen für Anfänger, Lyrik-Sessions und Ratespiele.
In Gesprächen will Yehoshua-Braverman vor allem Israelis erreichen, die ihrem Land den Rücken gekehrt haben und in Deutschland leben – manche von ihnen bereits mit Kindern. Bei der zweiten Generation von Exil-Israelis sei die Assimilation oft sogar noch stärker ausgeprägt als bei Nachkommen von Diaspora-Juden, beklagt Yehoshua-Braverman.
Viele Israelis, die in Berlin lebten, fehlten dem eigenen Land mit ihrem kreativen Potenzial und ihren Ideen. Sie wolle niemandem vorschreiben, wo er zu leben habe, aber mit allen in einen Dialog treten, um die gemeinsame Verbindung und die gegenseitige Verpflichtung aller Juden füreinander weltweit nicht abreißen zu lassen.
Einheitsgemeinde Zur Sache geht es auch bei einer Diskussion am Freitagnachmittag unter dem Titel »Blühende Landschaften oder verblühende Schönheiten? Jüdische Gemeinden in der Sinnkrise«. Geleitet wird sie von Michael Rubinstein, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Duisburg.
Thema ist, wie man Überalterung entgegenwirken und Einheitsgemeinden mit neuem Leben erfüllen kann. Rubinsteins Fazit: Solange jüdische »Funktionäre« nicht verstünden, dass im Interesse des Judentums jede religiöse Strömung gefördert werden müsse – auch wenn sie selbst, wie er sagte, eher orthodox oder konservativ sozialisiert seien – , so lange werde das Konzept der Einheitsgemeinde scheitern.
Doch ob orthodox oder liberal, über eines sind sich fast alle Teilnehmer einig: Das koschere Catering eines Berliner Anbieters schmeckt hervorragend – es sei, so ein Limmud-Veteran, sogar um Längen besser als bei der riesigen jährlichen Limmud-Konferenz in Großbritannien. Wobei ein anderer Limmud-Erfahrener anmerkt, von englischem Essen für mehrere Tausend Teilnehmer sei auch nicht viel zu erwarten.
Das Gegenteil ist der Fall am Werbellinsee: Sobald die Essenspausen beginnen, drängen sich die Gäste am koscheren Buffet – um dann in einem Speisesaal, der an einen riesigen Kibbuz erinnert, ihre Gespräche fortzusetzen.
Kein Wunder, dass eine Gruppe von Jugendlichen, die eine »Limmud-Festivalzeitung« gestalten, vor allem die koschere Küche ins Visier nimmt. Und in der kommenden Woche, wenn der Alltag die Teilnehmer eingeholt haben wird, heißt es dann wieder: Nach Limmud ist vor Limmud!