Ich bin gewöhnt an dieses »wenig Platz haben«. Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer. Mehr nicht. Früher, als ich in einem lothringischen Dorf noch ein ganzes Haus bewohnte, besaß ich eine riesige Bibliothek und viele Kunstwerke. Aus gesundheitlichen Gründen musste ich vor einigen Jahren dieses Zuhause aufgeben und lebe jetzt wieder in Heidelberg, wohin ich 1956 als Siebenjähriger aus einer kleinen Stadt in Unterfranken mit den Eltern gezogen war.
Das Leben im Rollstuhl, auf den ich seit meinem Schlaganfall vor drei Jahren und zwei Infarkten angewiesen bin, ist schwer für mich. Ich habe ja auch noch eine unheilbare Lungenerkrankung und kann meine Wohnung allein nicht verlassen. Ohne Begleitung kann ich weder zur Bank gehen noch Bus oder Zug fahren. Ich kann nicht einmal meinen Abfall zur Mülltonne tragen.
Mit einer Nachbarin habe ich eine Art Hilfevereinbarung: Zwei- oder dreimal die Woche hänge ich eine Nesseltasche an den Griff meiner Wohnungstür, darin befinden sich Einkaufszettel und Geld. Dann bringt diese hilfsbereite Frau mir Kleinigkeiten, die ich aufgeschrieben habe, Milch und Butter oder Brot, Obst, Kaffee.
Die meisten meiner Gedichte sind von einer gewissen abständigen Trauer
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht überlege, wie es weitergehen kann. Auf der anderen Seite gibt es manchmal solche kleinen Stufen, bei denen ich denke, die kannst du noch nehmen. Beispielsweise habe ich noch ein Vorhaben angefangen und jetzt beendet, das dem Künstler Matthias Maaß gewidmet ist. Mit diesem leider verstorbenen Menschen hat mich eine vier Jahrzehnte lange Freundschaft verbunden. Im Februar wird ein Buch mit dem Titel »Les Très Belles Heures« vorgestellt, und zwar mit Arbeiten von ihm und Gedichten von mir. Diese Veranstaltung würde ich gern noch erleben.
Vor einem Jahr, am Neujahrstag, feierte ich mit Freunden in einem Heidelberger Hotel meinen 75. Geburtstag. Das war eingeschränkt, aber doch sehr schön. Ich hoffe, dass ich körperlich einigermaßen beieinander bleibe. Mein Kopf arbeitet ja noch gut. Schließlich habe ich mit dem Wallstein Verlag, in dem vor drei Jahren dank meiner Freunde Leonard Keidel und Chiara Caradonna meine gesammelten Gedichte aus über 50 Jahren erschienen sind, noch einen weiteren Band verabredet.
»Contro Canto«, zu Deutsch: »Gegengesang«, soll er heißen, mit dem Untertitel »Spätwerk«. Das mache ich absichtlich, weil ich mich nicht verstecken will. Mir ist bewusst, dass es innerhalb des deutschen Literaturbetriebs eine Reihe von Personen gibt, die sich aufgrund meiner jüdischen Identität scheuen, mit mir zu tun zu haben. Das wundert mich nicht und doch sehr.
Die Rätselhaftigkeit meiner Situation war ausschlaggebend für mein Schreiben.
Die meisten meiner Gedichte sind von einer gewissen abständigen Trauer. Das hat mit meiner Biografie zu tun, denn die ist, gelinde gesagt, äußerst ungewöhnlich. Schauen Sie sich einmal dieses Foto an: Es zeigt meinen Stiefvater, wie er als SS-Mann und Mitglied einer Einsatzgruppe irgendwo in der Ukraine einen Juden mit seiner Pistole durch Genickschuss tötet. Mein Adoptivvater, stellen Sie sich das vor! Was glauben Sie, was das mit mir gemacht hat, als ich den Mann auf diesem Bild von 1941 wiedererkannt habe?
Verstehen Sie, ich habe sehr belastende Phasen in meinem Leben gehabt. Niemand hat mich verstanden. Niemand in der Familie hat mich je gelobt, kein einziges freundliches Wort. Keine Anerkennung. Nichts. Meine Mutter hat mich nie umarmt. Ich habe oft an mir gezweifelt, mich gefragt, wozu ich überhaupt auf der Welt bin. Das ist die Tragödie in meinem Leben! Selbstverständlich hat meine Biografie mit meinem Schreiben zu tun. All die Brutalität, die Beschimpfungen und Herabwürdigungen, denen ich immer wieder ausgesetzt war. Mein Stiefvater hat seinen ganzen Sadismus an mir ausgelassen. Was glauben Sie, warum ich das so lange, bis zum Abitur und darüber hinaus, ausgehalten habe? Ich habe mir doch keinen Rat mehr gewusst als Kind. Ich wusste doch nicht, was da los war.
Meine Mutter sprach nie über meinen leiblichen Vater
Meine Mutter hatte mir nie gesagt, dass ich jüdisch bin. Sie hat auch nie über meinen leiblichen Vater gesprochen, das habe ich alles erst viel später herausgefunden. Dass er Kommunist war und deshalb Deutschland verlassen wollte und später in Venezuela als Fotograf eine neue Familie gegründet hatte. Ach, es ist so schmerzhaft.
Zum Glück hatte ich meine Großmutter mütterlicherseits: Rosa Riedel, geborene Eliescher. Sie stammte ursprünglich aus Czernowitz und war die einzige Person, der ich absolut vertrauen konnte. Ihr eigenes Jüdischsein hatte sie versteckt und nicht einmal ihren Kindern davon erzählt. Mir gegenüber erwähnte sie es erst, als ich zwölf Jahre alt war. Davor, in der Volksschule, hatte ich zum ersten Mal gehört, dass die Juden vergast gehörten.
Meine Großmutter kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts über Wien nach Mähren. Im Gefolge der Beneš-Dekrete wurde sie 1946 aus der Tschechoslowakei vertrieben und kam in einem Viehwaggon in die Nähe von Potsdam. Meine Mutter fand eine Bleibe in Karlstadt am Main und hatte dort als gelernte Fotografin eine Anstellung in einem Fotoladen bei meinem leiblichen Vater gefunden. Dort wurde ich 1949 geboren, als uneheliches Kind, weil meine Mutter nicht mehr an die Rückkehr ihres Mannes aus Russland glaubte. Ob sie wusste, dass er, den sie noch sehr jung in der Tschechoslowakei geheiratet hatte, an so vielen Einsätzen der SS teilgenommen hatte? Ich weiß es nicht.
Meine Großmutter kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts über Wien nach Mähren.
Dieses Alleingelassensein, das Unverständnis und die Rätselhaftigkeit meiner Situation innerhalb der Familie waren ausschlaggebend für meine Beschäftigung mit dem Schreiben. Mit zwölf Jahren habe ich begonnen, einen Roman zu entwerfen. Gleichzeitig habe ich mein erstes Testament verfasst und festgelegt, was auf dem Grabstein zu stehen hat. Ich denke, wenn meine Großmutter nicht so eine kluge Frau gewesen wäre, wäre mein Leben anders verlaufen. »Rainerle, gildener Rainerle. Du musst lesen, dass du wirst ein berühmter Mann.«
In Schwäbisch Hall leitete ich in den 80er-Jahren die Städtische Galerie
Das waren Großmutters Worte, die für mich wie ein Zauberspruch waren. Wenn ich bei ihr auf Besuch war, bekam ich Bücher von Pasternak oder Scholochow zu lesen, aber auch Schopenhauer oder Balthasar Gracian. Und das in Potsdam, in den 50er-Jahren tiefste DDR-Provinz.
Ich habe dann später doch auch viel Schönes verwirklichen und erleben dürfen. In Schwäbisch Hall leitete ich in den 80er-Jahren die Städtische Galerie. Später war ich Gründungsdirektor des Kunstmuseums Heidenheim. Noch heute würde ich, wenn es mir möglich wäre, Ausstellungen kuratieren. Ich hatte ja, neben Theologie, Germanistik, Philosophie und Französisch, auch Kunstgeschichte studiert. Und ich war gut, nicht zuletzt als Gutachter und Dozent. Ich sage das ohne Eitelkeit – ich wusste, was mein Wert war. Unter Pseudonym habe ich auch für »Die Zeit«, später auch für »Die Welt« geschrieben, unter anderem über Gérard Depardieu oder die Uraufführung eines Werkes von John Cage in Paris. Das waren Geschichten, die ich aber immer getrennt habe von meiner Tätigkeit als Dichter.
Für mein Geld musste ich immer selbst sorgen. Ich war nie sozialversichert. Um in der poetischen Kunst unabhängig zu sein, musste ich meinen Lebensunterhalt eben in der bildenden Kunst verdienen. Ich wollte nie irgendwelche Kompromisse machen, nur um ein Stipendium zu bekommen oder einen Preis zu erhalten.
ich bin mit Ehrungen nie überschüttet worden
Zwei Sachen möchte ich gern noch erwähnen: meinen einzigen Besuch 2019 in Israel, wo ich mich sicher fühlte und wo mein Geschriebenes ein wohlwollendes Echo fand. Wie kostbar, diese »Woher-kommst-du-wohin«-Geschichtlichkeit in Resonanz mit den jungen Menschen der Hebrew University in Jerusalem wahrzunehmen. Und dann natürlich das Überraschungsgeschenk der Komponistin Sarah Nemtsov, das mich vor Kurzem erreichte. Sie hat mein Gedicht »Schatten zu« vertont. Ich wusste zunächst nichts davon. Und jetzt wird es bald von der Schola Heidelberg uraufgeführt. Was für eine Freude und Ehre! Wissen Sie, ich bin ja mit Ehrungen nie überschüttet worden.
Was ich mir noch wünschte? Dass ich zum Ende meines Lebens hin einen jüngeren Menschen an meiner Seite hätte, der mich verständnisvoll begleitet und der anfassbar ist. Oder dass ich wieder eine Katze haben kann. Das ist alles, was ich mir wünsche. Ich habe niemanden, der meine Hand nimmt. Und ich bin ja nicht aus Holz.
Aufgezeichnet von Matthias Messmer