Linoleumboden, schmucklose Wände, ein unbenutztes Krankenhausbett, abgestellt im leeren Flur. Gerhard Nerlich schließt eine unscheinbare Kellertür auf, die Beschriftung verweist auf einen Technikraum. Dahinter führen schwere Rohre die Wände entlang, es ist drückend warm. Bröckelige Backsteinmauern zeigen an, dass es sich um einen sehr alten Teil des Krankenhauses handelt. Man sieht einen langen Gang.
»Hier haben sich bis zu 1000 Juden am Ende des Zweiten Weltkriegs versteckt. Das waren Patienten, Ärzte und Mitarbeiter des Jüdischen Krankenhauses«, erzählt Nerlich. Die Rote Armee dachte bei der Befreiung zunächst, es würde sich um Nazis handeln, und plante ein Erschießungskommando. »Irgendwie konnten die Menschen sie aber überzeugen, dass sie Juden waren – Juden, die bis hierhin überlebt hatten.«
naziterror Als einzige jüdische Institution innerhalb des Deutschen Reiches hatte das Krankenhaus in Berlin-Wedding während des Zweiten Weltkriegs geöffnet. Es überdauerte den Naziterror bis zum Kriegsende am 8. Mai 1945. »Es hat keinen Tag dichtgemacht«, sagt Unternehmenssprecher Nerlich – und es klingt Stolz mit. Seit über 40 Jahren ist der 63-Jährige hier tätig. Ein Krankenhaus wie jedes andere – und auch wieder nicht. Die Geschichte ist immer da.
Offen für alle: Das war das Jüdische Krankenhaus seit seiner Gründung 1756.
Offen für alle: Das war das Jüdische Krankenhaus seit seiner Gründung 1756, damals noch in der Oranienburger Straße im Zentrum Berlins. Erst Mitte der 30er-Jahre änderte sich das durch die Gesetzgebung der Nationalsozialisten. Nur noch Juden durften hier behandeln, nur noch Juden durften sich behandeln lassen.
Die Machthaber besetzten das Krankenhaus und nutzten es als Sammelstelle, bevor die Menschen deportiert wurden. Außerdem wurden hier ungezählte Juden, die aus Angst vor der Deportation versucht hatten, sich das Leben zu nehmen, wieder gesund gepflegt – um dann doch deportiert zu werden.
pflege Seit 1963 ist das Krankenhaus eine Stiftung Bürgerlichen Rechts. Der Geist des jüdischen Glaubens sei aber immer noch spürbar, findet der ärztliche Direktor Kristof Graf. Man habe »einfach eine besondere Verantwortung«, wenn man hier arbeite. Der 58-Jährige, selbst evangelisch, sieht in der Pflege einen »extrem positiven Umgang mit den Patienten«.
Dies sei wohl auch der Tatsache geschuldet, dass es sich mit rund 300 Betten um ein vergleichsweise kleines Krankenhaus handele. »Es hat aber auch mit seiner Prägung und Geschichte zu tun«, so Graf. Zuwendung zum Patienten spiele – wie in konfessionellen Krankenhäusern überhaupt – hier einfach eine größere Rolle.
Mittlerweile ist die Minderheit der Mitarbeiter und Patienten jüdisch. »Wir sind hier mitten im Wedding. Und entsprechend sind auch die Patienten häufig arabischer oder türkischer Herkunft und eben oft Muslime«, so Nerlich. Dass sie sich in einem jüdischen Krankenhaus behandeln lassen, werde kaum registriert. »Ich geh‹ ins Jüdische«, sei unter den Bewohnern im Viertel eine gängige Redensart, wenn ein Krankenhausbesuch anstehe. Die Institution wird als Teil des Kiezes wahrgenommen – sie gab es immer schon.
Eine Besonderheit ist, dass das Krankenhaus als einziges in Berlin rituelle Beschneidungen vornimmt, 130 pro Jahr.
Brit mila Eine Besonderheit ist, dass das Krankenhaus als einziges in Berlin rituelle Beschneidungen vornimmt, 130 pro Jahr. Etwa ein Drittel davon an jüdischen männlichen Säuglingen, die anderen an muslimischen Jungen. Auf Wunsch wird zudem koscheres Essen angeboten.
Auch eine Synagoge gibt es seit dem Umzug des Krankenhauses in den Wedding im Jahr 1914. Mitten im Park steht sie, umstanden von blühenden Kastanienbäumen. Während der Nazizeit flüchteten jüdische Mitarbeiter sich heimlich hierhin, um zu beten. Es ist ein kleiner, schlichter Raum. Ein Fenster in Form eines Davidsterns, Kippot auf einem Tisch. Das Krankenhaus – ein Friedenshort: Anders als bei anderen jüdischen Einrichtungen in Deutschland ist die Synagoge nicht polizeilich geschützt. Lediglich Streife wird regelmäßig auf dem Gelände gefahren.
Einen Tag nach Weltkriegsende im Mai 1945 sei im Krankenhaus ein kleines, nichtjüdisches Mädchen geboren worden, erzählt Nerlich. Die Mitarbeiter des Krankenhauses, die knapp dem Tod entkommen waren, nahmen es als Zeichen.