Darmstadt

»Kein Utopist«

Jürgen Kaube, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen Foto: picture alliance/dpa

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Philipp Peyman Engel,

vorab muss ich Sie um Nachsicht bitten, wenn ich erst in der zweiten Hälfte meines Vortrags auf den mit dem Preis Geehrten zu sprechen komme. Zuvor würde ich gerne etwas zu den Umständen sagen, unter denen er seine bemerkenswerte und preiswürdige Arbeit leistet. Es sind die Umstände der Kriegshandlungen im Gaza-Streifen, die Umstände des weltweiten Streits um Israel, die Umstände der Debatten um den Begriff und das Phänomen des Antisemitismus.

Philipp Peyman Engel ist Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen«, er weiß von den Kämpfen, in denen er steht. Ich möchte sie uns ins Bewusstsein rufen.

Wir sind im Bereich der Literatur, also im intellektuellen Bereich von Ricarda Huch, der Namensgeberin des Preises. Darum wollen wir auf Worte und Sätze aufmerksam sein. Bleiben wir in der Gegenwart und nehmen wir das häufig gebrauchte Wort »Israelkritik«. Es soll, heißt es derzeit oft, Israelkritik möglich sein, ohne sogleich als antisemitisch abgewehrt zu werden.

Begriff »Israelkritik«

Recht wohl. Die Regierung Netanjahu, mit ihren dubiosen Ministern aus dem Lager ultraorthodoxer Fanatiker, kann man kritisieren, ohne dem Verdacht des Antisemitismus anheim zu fallen. Ja, man muss sie kritisieren. Man kritisiert dann aber durchaus politische Entscheidungen einer gewählten Regierung und nicht ein ethnisches Merkmal ihrer Entscheider.

Solche Kritik äußern beispielsweise Hunderttausende von Bürgern in Israels. Von vielen, die auf der legitimen Möglichkeit zu Israelkritik bestehen, wird das hervorgekehrt. Wenn selbst israelische Bürger gegen Netanjahu und seine Spießgesellen aufstehen, wie könnte das denn antisemitisch sein?

In der Tat ist es das nicht von vornherein.

Aber üben die Kritiker Netanjahus deshalb »Israelkritik«? Sie tun es keinesfalls. Der Begriff, der vielen so leicht über die Lippen und in die Feder oder Tastatur gleitet, ist ein Unikum.

»Deutschlandkritik« und »Frankreichkritik«

Niemand, der Olaf Scholz kritisieren würde, käme auf den Gedanken, »Deutschlandkritik« geübt zu haben, niemand, der etwas gegen die Politik Emanuel Macrons hätte, würde das als »Frankreichkritik« verstehen. Wie kommt man also auf die Idee, die Kritik einer Regierung sei zumindest der Vokabel nach die Kritik eines Landes?

Wir kennen die rhetorische Figur des »Pars pro toto«, hier aber haben wir es mit ihrer Umkehrung zu tun: Das Ganze muss für einen Teil herhalten.

Die Antwort auf die Frage, wie man zu dieser Umkehrung kommt, ist nicht so schwer. Den Begriff »Israelkritik« zu verwenden, ist so fahrlässig wie verräterisch. Denn es meint, dass hinter der falschen Politik einer teils korrupten, teils fanatischen Regierung, eine falsche Staatskonstruktion steht. Man möchte die Existenz des Staates Israel kritisieren.

Historische Legende

Schon diese Existenz, wird behauptet, ist falsch. Israel soll ein anderer Staat werden, zwei andere Staaten oder es soll gar – »From the river to the sea« – verschwinden. Das ist die »Israelkritik«, die sich jene Sprecher vorstellen, die nicht gerne antisemitisch genannt werden wollen, obwohl ihre Vorschläge darauf hinauslaufen, dass der jüdische Staat untergehen würde. Sie sind gegen den jüdischen Staat.

Weshalb sind sie gegen den jüdischen Staat? Teils, weil sie eine koloniale Landnahme für seine Voraussetzung halten. Das können wir als historische Legende beiseitelegen. Die ersten Zionisten waren Flüchtlinge, keine Aggressoren.

Die vielbeschworene Nakba, die Vertreibung der damals noch nicht »Palästinenser« heißenden ortsansässige Araber, die absurderweise gegen den Holocaust aufgeboten wird – der Holocaust, eine Vertreibung? –, erfolgte in einem Krieg, der auch die hunderttausendfache Vertreibung von Juden aus den arabischen Ländern zur Folge hatte. Das macht aus Unrecht kein Recht, aber von der historischen Darstellung der damaligen Vorgänge sollte man das gegenwärtige politische Interesse doch fernhalten.

Keine eindeutige Bestimmung

Es gibt noch andere Motive der Gegnerschaft zum jüdischen Staat. Viele stören sich an der Vorstellung eines Staates, der eine ethnisch-religiöse Prämisse hat. Hier betreten wir ein schwieriges Feld. Es ist bis heute niemandem gelungen, eindeutig zu bestimmen, was das Judentum ist: ein Familiennetzwerk, eine Abstammung, eine Religion und rituelle Praxis, ein »Volk Gottes« auf einem Heiligen Land.

Entsprechend vieldeutig ist es bis heute, was »jüdischer Staat« heißen soll. Der Zionismus war in seinen Anfängen keine religiöse Bewegung. Theodor Herzl hätte sich über die Siedler im Westjordanland erstaunt.

Die Kritiker des Staates Israel verlangen hier eine Vereindeutigung. Sie fordern, Israel solle die Palästinenser als gleichberechtigte Mitglieder des Staates aufnehmen und am besten auch alle ihre Verwandten, die außerhalb Israels, des Gaza-Streifens und der Westbank leben. Sie unterstellen also ihrerseits eine Verwandtschaftsdefinition staatsbürgerlicher Zugehörigkeit: Wer immer von einer palästinensischen Familien abstammt, soll das Bürgerrecht in Israel genießen.

Absurde Option

Dass Israel von religiös homogenen Staaten umgeben ist, die seit mehr als einem halben Jahrhundert Krieg gegen Israel führen, fällt dabei so wenig ins Gewicht wie die Tatsache des fanatischen Hasses derjenigen auf Israel und die Juden, die man nun zu ihren Mitbürgern machen möchte.

Die Einstaatenlösung mit einer Bevölkerung, deren Aversion gegeneinander größer ist als die nordirischer Protestanten und Katholiken, ist eine absurde Option, auch wenn man sie »Utopie« nennt, was Intellektuellen gefallen mag, die sich für nicht mehr als Wunschvorstellungen verantwortlich fühlen.

Ich komme genau an dieser Stelle zu Philipp Peyman Engel. Er ist kein solcher Utopist. Dazu wird auch nicht leicht, wer als deutscher Jude deutsch-iranischer Abstammung seit mehr als vier Jahrzehnten in diesem Land lebt. Die Familie war 1967 aus dem Iran geflohen, zwölf Jahre bevor dort das Mullah-Regime die Macht übernahm.

Geschützte Äußerungen

Damals lebten etwa 25.000 Juden in Deutschland, heute sind es etwa 200.000 Personen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum hat sich die Zahl der Muslime von 500.000 hierzulande auf 5,5 Millionen erhöht.

Wahrgenommen, so erzählt es Engel, wurden die Mitgliederseiner Familie zunächst von den Deutschen weder als Juden noch als Perser, sondern als Ausländer. Dann kamen allmählich die Judenwitze, die Beschimpfungen durch dumme Kerls, die sich aus dem Vokabular der Antisemiten bedienten. Und es traten die antisemitischen Affekte hinzu, die aus radikalisierten Teilen der muslimischen Gemeinschaft erfolgen. Wir sind alle im zurückliegenden Jahr vielfach Zeugen dieser Affekte und hasserfüllten Parolen geworden.

Was das alles für Philipp Peyman Engel wie für uns schwer erträglich macht, ist der Umstand, dass Teile des öffentlichen Diskurse auf diese Affekte mit Verständnis reagieren. Schlauen Juristen, Hauptstadtstudio-Chefs, Professoren und Kuratoren fällt zu ihnen, zu den Boykottaufrufen gegen Israel, zu antisemitischen Kunstwerken und antijüdischen Demonstrationen vor allem ein, dass es sich bei den Hassparolen zumeist um von der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit geschützte Äußerungen handelt. Wir müssen an dieser Stelle tapfer sein: Das ist tatsächlich so. Auch der Hass ist, in Grenzen, von der Verfassung geschützt.

Merkwürdigkeiten und Absurditäten

Merkwürdig aber bleibt, dass dies nicht nur das Erste, sondern oft auch das Einzige ist, was jenen Kommentatoren dazu einfällt. Wie kommt es, dass sie zur Substanz dieser Hassparolen so gut wie nichts sagen, sondern nur zu ihrer meinungsrechtlichen Erlaubtheit?

Das führt zu einer, von Philipp Peyman Engel festgehaltenen Situation. Muslimischer und linker Antisemitismus, den Jean Améry schon 1968 beklagte, werden als »Israelkritik« behandelt, als Notwehr der Unterdrückten oder als Solidarität mit ihnen. Dabei ist es natürlich ganz unerfindlich, was die Palästinenser davon haben, wenn an einer amerikanischen, britischen oder deutschen Universität eine jüdische Person nicht mehr mit Kippa herumlaufen kann, ohne zum Gegenstand verbaler und mitunter nicht nur verbaler Aggressionen zu werden.

Philipp Peyman Engel ist der Chronist dieser Merkwürdigkeiten und, offen gesagt, Absurditäten. Zu ihnen gehört es, den Holocaust als eine Variante des Kolonialismus zu behandeln und damit eine Reihe zu bilden, die lautet: Wilhelm II., Hitler, die Buren, Israel.

»Atemberaubende Selbstverblödung«

Zu den hierbei mitlaufenden Absurditäten gehört, wie Engel anmerkt, dass die Verächter »kultureller Aneignung«, die aufschreien oder »sich nicht wohlfühlen«, wenn jemand Dreadlocks trägt, der nicht aus Jamaika kommt, von keinem unwohlen Gefühl heimgesucht werden, wenn das »Palästinensertuch« von deutschen Studenten aufgetragen wird. Zu den Absurditäten gehört nicht zuletzt die Vorstellung, die Hamas verdiene die Solidarität der queeren Netzwerke.

Eigentlich müsste man, wie ehedem im absurden Theater, lachen. Wenn diensthabende Weltintellektuelle wie Judith Butler aber dekretieren, es habe sich bei den Taten des 7. Oktober zweifelsfrei um Akte des politischen Widerstands gehandelt – Widerstand durch das Abschlachten von Festivalbesuchern, Widerstand durch Vergewaltigung, Widerstand durch Folter -, bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Sie stellt sich dumm und fragt nach Beweisen für Vergewaltigungen und andere Gräueltaten. Sie in Abrede zu stellen, ist nicht einmal dem UN-Generalsekretär Antonio Guterres eingefallen. Die, entschuldigen Sie bitte, Selbstverblödung mancher Leute, wenn das Wort »Israel« in ihr Bewusstsein eintritt, ist atemberaubend.

Lange Listen

Das alles notiert jemand, der die spezielle Rollenkombination »Deutscher, Jude, Journalist« verwirklicht. In seinem Buch »Deutsche Lebenslügen – Der Antisemitismus, wieder und immer noch«, führt Philipp Peyman Engel lange Listen mit Beispielen für diesen Schulterschluss der sich postkolonial empfindenden Linken mit dem islamistischen Terror.

Er hat, worauf Engel hinweist, eine Vorgeschichte in dem Bestreben der antikapitalistischen Linken von 1968, schon den historischen Zionismus als eine faschistische Ideologie zu bezeichnen.

Heute redet man davon, die Existenz Israels gehöre zur Staatsräson der Bundesrepublik, schickt aber zum Jahrestag der muslimischen Machtergreifung in Teheran herzliche Glückwünsche »auch im Namen meiner Landsleute«, wie der Bundespräsident meinte hinzufügen zu müssen. Wie passt das zusammen? Philipp Peyman Engel fühlt sich hier nicht mitgemeint. Wir auch nicht.

UNRWA und Albanese

Mit dem Ricarda-Huch-Preis ehren Sie einen wachen Mann, dem derlei intellektuelle Verwahrlosungen auf die Nerven gehen. Es mag sein, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, doch das kann nicht rechtfertigen, an ihrer Zerstörung mitzuwirken.

Man kann nicht »Nie wieder« sagen und sich danach am Grab des Terroristen Arafat verneigen oder seinem Nachfolger in der PLO, dem Holocaust-Leugner Abbas, kommentarlos die Hand drücken. Gewiss müssen Philipp Peyman Engel und ich darüber diskutieren, ob zur Existenz Israels als Staatsräson Deutschlands nicht auch ein offenes Wort gegenüber der derzeitigen israelischen Regierung gehören würde, denn auch ihre Politik ist geeignet, die Existenz dieses Staates zu gefährden.

Doch von dieser Vermutung führt kein Weg zur Täter-Opfer-Umkehr, zur Verharmlosung des Terrorismus und zu Euphemismen über die UNWRA oder die unwürdige UN-Berichterstatterin Francesca Albanese, die Netanjahu mit Adolf Hitler verglichen hat. Offenkundig liest sie keine historischen Bücher oder die falschen.

»Nicht allzu homogen«

Die »Jüdische Allgemeine«, deren Chefredakteur Philipp Peyman Engel ist, hat eine Auflage von ungefähr 11.000 Exemplaren. Das scheint nicht viel, aber wenn wir für einen Moment unterstellen, dass es überwiegend deutsche Juden sind, die sie lesen, dann erreicht die Zeitung fünf Prozent von ihnen, wahrscheinlich doppelt oder dreimal so viel. Davon könnten andere Zeitungen nur träumen. Die Leserschaft dürfen wir uns jenseits des Merkmals jüdischer Abkunft nicht allzu homogen vorstellen.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, mit einer Anekdote zu schließen. In dem Film »The Big Short«, der die Bankenkrise von 2008 erörtert, tritt ein Investmentbanker auf, der darauf spekuliert, den ganzen Immobilienschwindel der amerikanischen Finanzindustrie auffliegen zu lassen. Ein Rückblick zeigt seine Mutter im Gespräch mit dem Rabbiner seiner Schule. Er teilt ihr mit, der Sohn habe nur die besten Noten.

»Aber?« fragt sie. »Nun«, sagt der Lehrer händeringend und mit Sorgenfalten auf der Stirn, »er versucht ständig, Gott Widersprüche nachzuweisen«. Worauf die Mutter lakonisch versetzt: »Und? Hat er welche gefunden?«

Verlogenheit und Feigheit

Das ist die Haltung von Philipp Peyman Engel zu den Widersprüchen unserer Gegenwart. Wenn wir welche finden, müssen sie benannt werden. Ganz gleich, ob wir damit das Renommee unseres Bundespräsidenten antasten, den Ruf der angemaßten Philosophen oder die gängigen Redensarten in den öffentlich-rechtlichen und manchen privaten Medien.

Philipp Peyman Engel insistiert darauf, unsere Widersprüche im Verhältnis zum jüdischen Staat und zu unseren jüdischen Bürgern zu bezeichnen. Er interessiert sich für solche Widersprüche, weil er in ihnen die Verlogenheit, die Dummheit, die Feigheit unserer Zeit erkennt. Das ist hart. Aber dafür schulden wir ihm Dank.

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