Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hat die gemeinsame Sorge von Christen und Juden angesichts des neuen Antisemitismus bekräftigt. »Christen und Juden werden sich niemals wieder voneinander trennen«, betonte der Erzbischof von München und Freising am Sonntagabend in der Katholischen Akademie in Berlin.
Zugleich zeigte er sich »immer wieder überrascht über das Unwissen in den eigenen Reihen«. Deshalb müssten sich die Christen immer wieder neu befragen im Hinblick auf die »religiöse Komponente« des Antisemitismus, den jahrhundertelangen Antijudaismus in der Kirche. In der Ausbildung etwa von Priestern und Religionslehrern müssten diese Themen angemessen behandelt werden.
Marx äußerte sich bei einer ersten gemeinsamen öffentlichen Podiumsdiskussion der Deutschen Bischofskonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz. »Ich bin in großer Sorge, weil ich unsere Gesellschaft erlebe, in der es immer mehr ›closed shops‹, Blogs und Ideologien von Menschen gibt, die sich nicht belehren lassen, die sich in Verschwörungstheorien ergehen und rasch einen Resonanzboden für dumpfe Parolen des Antisemitismus finden«, so Marx.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sagte, der Anschlag auf die Synagoge von Halle habe in der jüdischen Gemeinschaft zu Unsicherheit geführt. In Deutschland seien inzwischen antisemitische Äußerungen möglich geworden, die es vor einigen Jahren noch nicht gegeben habe. »Das ist ein Verschieben von roten Linien«, so Schuster.
ZIVILCOURAGE Zugleich wertete er es als hoffnungsvolles Zeichen, dass er noch nie so viele Solidaritätsbekundungen erhalten habe wie in den vergangenen Wochen. »Was wir brauchen, ist sehr kostengünstig zu haben: Wir brauchen Zivilcourage eines jeden Einzelnen. Zivilcourage kann unser Land verändern. Dann wäre eine Menge erreicht.«
»Christen und Juden werden sich niemals wieder voneinander trennen«, betonte Kardinal Marx.
Nach Auffassung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) war der Antisemitismus in Deutschland nach 1945 »nie verschwunden« und habe sich in dieser Zeit nur unterschiedlich artikuliert. Deshalb müsse auch der Kampf gegen den Antisemitismus »in jeder neuen Generation bei Null beginnen«.
Heute müssten etwa die Kinder mit »Zuwanderungsgeschichte«, die einen großen Teil der jungen Generation bildeten, anders angesprochen werden als früher die Nachkommen der deutschen Nationalsozialisten, so der Ministerpräsident unter Hinweis auf eine Gruppe junger Muslime, die er auf einer Reise nach Auschwitz begleitet habe.
Die Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission, Katharina von Schnurbein, sprach mit Blick auf den Anschlag von Halle von einer »perfiden Strategie« des Täters. Künftig werde immer am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur an dieses Attentat erinnert werden.
Unter großem Beifall konnte Schuster die junge Frau darauf aufmerksam machen, dass Soussan ebenso wie er selbst deutscher und nicht etwa israelischer Staatsbürger sei.
ISRAEL Der kirchliche Antijudaismus ist allenfalls ein Zweig des heutigen Antisemitismus, worauf der Frankfurter Rabbiner Julian Chaim Soussan hinwies. Er griff das Bild vom Virus auf, das immer wieder in veränderter Form auftrete. In der Gegenwart sei etwa ein Israel-bezogener Antisemitismus verbreitet: Von einer legitimen Kritik an der Politik Israels unterscheide sich dieser durch Doppelstandards (heftigere Kritik an Israel als an anderen Ländern) sowie die Delegitimierung und Dämonisierung des jüdischen Staates.
Was sogleich in der Diskussion zur Wortmeldung einer jungen Frau führte, die sich dagegen verwahrte, als Antisemitin zu gelten, wenn sie »als Christin« Israel kritisiere. An Soussan gerichtet meinte sie weiter, auch er müsse doch Kritik an den Verhältnissen »in Ihrem Land« als legitim erachten. Unter großem Beifall konnte Schuster sie darauf aufmerksam machen, dass Soussan ebenso wie er selbst deutscher und nicht etwa israelischer Staatsbürger sei.
Einnoch größeres Problem als Wortmeldungen dieser Art stellen nach Ansicht Soussans auch diejenigen dar, die die Grenzen des Sagbaren bewusst ausloten und überschreiten - wie die rechtsextreme Partei »Die Rechte«, die im Europa-Wahlkampf mit dem Slogan »Israel ist unser Unglück« provozierte und das ohne strafrechtliche Folgen. Wenn sich in der Vergangenheit manche nicht getraut hätten, zu sagen was sie denken, so der Rabbiner, »war mir das viel lieber, als wenn man sich heute traut«. ja/kna/dpa
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