Klaus Winter macht sich viel aus Erinnerungen. Gemeinsam mit Anna Martin vom Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte der Universität Duisburg-Essen befreit er Grabsteine auf Dortmunder Friedhöfen von Gestrüpp, kappt Äste und kratzt vorsichtig Bewuchs von den Platten. Das Team bringt versteckte jüdische Gräber ans Tageslicht, fotografiert sie und reflektiert mit Spiegeln das Sonnenlicht auf die Steine, um ihre Inschriften lesen zu können.
Eines der Grabmäler ist das der Mathilde Elias von 1885. »Ich dachte, das Grab gibt es gar nicht mehr. Ich hatte einen Artikel von der Eröffnung des jüdischen Friedhofs und dieser ersten Bestattung im Zeitungsarchiv gefunden«, so Klaus Winter. Anna Martin habe dann die zugewachsene Steinkante am Boden entdeckt, berichtet er erfreut.
PUZZLE Das erste jüdische Grab auf Feld 14 des Dortmunder Ostfriedhofs ist Teil eines Puzzles, das erst noch zusammengesetzt werden muss. Mit Hilfe der Fördersumme von 304.000 Euro aus dem Programm »Heimat. Zukunft. Nordrhein-Westfalen« des nordrhein-westfälischen Landesministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung werden Winter und Martin nicht nur die 300 jüdischen Gräber auf dem Ostfriedhof, sondern auch fast 700 Grabmäler auf dem Dortmunder Hauptfriedhof dokumentieren.
Ziel des Projekts zum 150. Jubiläum des »Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark« ist es, ein möglichst umfassendes Bild der ehemaligen jüdischen Gemeinde der Stadt zu zeichnen.
Klaus Winter durchforstet Zeitungen, Archive, Bibliotheken – es ist echte detektivische Kleinarbeit.
»Die Dortmunder Einwohnerdatei vor 1945 ist im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Darum gibt es heute zwar historische Schlaglichter – wir wissen zum Beispiel etwas über jüdische Kaufleute am Westenhellweg –, aber uns fehlt das Gesamtbild«, erläutert der Direktor des Stadtarchivs, Stefan Mühlhofer.
ARCHIVE Winter wird gemeinsam mit der Projektleitung der Geschichtsmanufaktur Dortmund fortlaufend Recherchen anstellen, um Erkenntnisse aus den Grabmälern herauszukristallisieren. »Wir wollen ja nicht nur wissen, wann die Menschen geboren und gestorben sind. Mich interessieren die Berufsstände, die Gewerbe, die familiären Verbindungen untereinander und in die Stadtgesellschaft«, erklärt Winter.
Dazu durchforstet der 62-Jährige Zeitungen, Archive, Bibliotheken – es ist echte detektivische Kleinarbeit. Er hält ein Adressbuch von 1894 in der Hand, in dem er lange Namenslisten studiert, die auch Informationen zu den Gewerben der Personen enthalten, zum Beispiel zum Bettfedernfabrikanten Moritz Heymann, dessen Nachname etliche Male vertreten ist.
Bis Ende 2022 sollen die Ergebnisse in Text, Bild, Audio und Video vielseitig nutzbar werden. Es gibt bereits eine Projekt-Website. »Wir werden eine pädagogische Mappe erarbeiten, was mir persönlich sehr wichtig ist. Schüler können dann selbst auf Entdeckungsreise gehen«, sagt Winter.
Der Ostfriedhof ist bekannt für viele Prachtgräber wichtiger Dortmunder Persönlichkeiten.
Im Fokus steht vor allem die Zeit der industriellen Blüte bis 1933. Damals lebten etwa 4500 jüdische Bürger in Dortmund, das insgesamt etwa 600.000 Einwohner zählte. »Der Zeitraum der Gräber reicht aber bis 1951, worüber ich sehr froh bin. Daran können wir sehen, welche Juden nach 1945 noch in Dortmund gestorben sind«, so Klaus Winter.
BRONZE-MENORA Der Ostfriedhof ist bekannt für viele Prachtgräber wichtiger Dortmunder Persönlichkeiten wie beispielsweise der Industriellenfamilie Hoesch. Entsprechend wurden dort auch angesehene jüdische Bürger begraben, darunter Vertreter der damaligen Synagogengemeinschaft.
Beeindruckend auf dem Ostfriedhof sind zudem einige von Benno Elkan gestaltete Grabmale. Der 1877 in Dortmund geborene jüdische Bildhauer begann seine Karriere hier. Später wurde er weltberühmt, vor allem durch seine Bronze-Menora vor der Knesset in Jerusalem. Derzeit hat die Stadt Dortmund die Bronze-Grabmale auf dem Ostfriedhof zum Schutz vor Diebstahl in Sicherheit gebracht.
An anderer Stelle deutet Klaus Winter auf hohe, rechteckige schwarze Rahmen aus Granit der Kaufmannsfamilie Rose. »Auf dem Friedhof schlugen mindestens drei Bomben ein. Ich vermute, dass die Innenplatten der Grabmale durch den Druck der Bomben herausgefallen sind«, so Winter. Eventuell seien diese Platten tiefer im Boden versteckt, überlegt er. Buddeln ist allerdings ausgeschlossen. Aus Respekt vor der Totenruhe arbeiten Winter und Martin nur an der Oberfläche der Gräber.
INSCHRIFTEN Klaus Winter bemüht sich seit Jahrzehnten um die Dokumentation der jüdischen Stadtgeschichte, vor allem seines Heimatstadtteils Aplerbeck. Das aktuelle Projekt »Jüdische Identität, jüdisches Leben und jüdische Friedhöfe in Dortmund« hat er 2015 selbst angestoßen.
In der Jüdischen Gemeinde Dortmund stößt das Projekt auf ein positives Echo.
Für seine Aplerbecker Chronik nahm er zwei kleine jüdische Friedhöfe in Augenschein und fragte erstmals beim Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut an, um die hebräischen Inschriften auf drei Gräbern entziffern zu können. Das Steinheim-Institut dokumentierte die Begräbnisstätten. Mittlerweile hat es sieben jüdische Friedhöfe in sechs Dortmunder Vororten verzeichnet, finanziert durch Mittel der Stadtbezirke. Am Ende sollen rund 1150 jüdische Gräber auf Dortmunder Friedhöfen in der Inschriften-Datenbank des Steinheim-Instituts verzeichnet sein.
WISSEN In der Jüdischen Gemeinde Dortmund stößt das Projekt auf ein positives Echo. »An den Friedhöfen können wir ablesen, welch großes und interessantes jüdisches Leben es hier gab«, erläutert Wolfgang Polak vom Vorstand der Gemeinde und fügt an: »Ich finde es wichtig, dieses Wissen nicht untergehen zu lassen.«
In anderen Kommunen seien im Zweiten Weltkrieg jüdische Grabsteine zertrümmert und für den Straßenbau eingesetzt worden, erinnert Polak, der auch Friedhofsbeauftragter des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe ist. Dem Landesverband gehören die circa 250 geschlossenen und verwaisten jüdischen Friedhöfe in Westfalen-Lippe.
Wer an den Gräbern auf Feld 14 vorbeischreitet, erahnt das Vergessene, von dem sie erzählen können. Wie kam es zum Beispiel dazu, dass Kurt Jonas, der 1940 im fernen Panama verstarb, trotzdem in der Inschrift des Familiengrabs eingraviert wurde? Klaus Winter schaut nachdenklich auf das Grabmal.