Matitjahu Kellig steht vor der Synagoge in Herford. Es ist ein stattlicher Bau aus rotem Backstein mit Giebel und einem goldenen Davidstern. 2010 ist das Gotteshaus eröffnet worden. »Ich möchte, dass die Menschen hierherkommen und Vorträge, Konzerte, Diskussionen besuchen«, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde der Stadt.
Seit fünf Jahren leitet der 71-Jährige die eher kleine Gemeinde mit 85 Mitgliedern, die aus den Landkreisen Lippe und Herford in der Region Ostwestfalen im Bundesland Nordrhein-Westfalen kommen. Er selbst lebt in Detmold, hat dort jahrelang als Professor an der Musikhochschule gelehrt und ist bis heute weltweit als Pianist unterwegs.
dialog Matitjahu Kellig weiß, dass seine kleine Gemeinde alleine nichts gegen Antisemitismus und Fremdenhass ausrichten kann. Er möchte deshalb sein Haus auch für andere öffnen, um Lesungen und Dialog anzubieten. »Das Interesse auch der nichtjüdischen Bevölkerung in Herford und im Umland ist groß«, sagt er.
Auch zum Schabbat kämen oftmals Gäste von außerhalb. Und trotzdem gibt es Situationen, die ihn sehr beunruhigen und fordern: Nach dem Anschlag in Halle hatte auch er Polizeischutz und ist seitdem immer wieder mit den Polizeibeamten und Sicherheitsbeauftragten in Kontakt und im Gespräch.
PROZESS Nicht nur der Anschlag in Halle, auch ein juristischer Prozess hat ihm zugesetzt. 2016 war Kellig vom Vorsitzenden der rechtsextremen Kleinpartei »Die Rechte«, Sascha Krolzig, via Internet als »frecher Juden-Funktionär« bezeichnet worden. Eine Formulierung, die Kellig 2017 zur Anzeige brachte. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld klärte danach, wie man die Formulierung in Abwägung mit dem Recht auf Meinungsfreiheit einzuordnen habe.
Der Begriff »frecher Jude« erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung.
Hinzu kam, dass jener Sascha Krolzig kein unbeschriebenes Blatt, sondern bereits mehrfach vorbestraft war. Sein Register füllte sich bereits in der Jugend: Das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen brachte ihm damals schon eine Strafe ein.
Später folgte eine mehrfache Verurteilung wegen Beleidigung. Jetzt wird er für sechs Monate eine Haftstrafe antreten müssen. Denn, so urteilte das Oberlandesgericht Hamm: Der Begriff »frecher Jude« ist Volksverhetzung. Nach der langen und für Kellig aufwühlenden juristischen Auseinandersetzung ist das Urteil gegen den 32-jährigen Angeklagten rechtskräftig und kann auch nicht mehr angefochten werden.
Das Oberlandesgericht Hamm hatte damit die Revision verworfen. Aus Sicht der Richter gehöre der Begriff des »frechen Juden« zum »charakteristischen Vokabular der Sprache des Nationalsozialismus«. Und: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gelte nicht vorbehaltlos.
Über Monate hinweg litt Matitjahu Kellig unter Aggression, Feindschaft und Spott.
Der Prozess habe ihm deutlich zugesetzt, lässt Matitjahu Kellig vorsichtig durchblicken. Zwar habe es keine direkten körperlichen Angriffe gegeben, doch unterschwellig über Monate hinweg Aggression, Feindschaft, viel Häme und Spott. Er sei jetzt zwar erleichtert, aber auch um eine Erfahrung reicher, eine bittere, merkt er an: »Denn wenn man alles durchstehen muss, ist man am Ende doch allein.«
Angst zeigen dürfe man nicht, das sei schließlich das Ziel der Gegner. Klar wird auch: Matitjahu Kellig hätte sich von vielen Seiten, auch von der jüdischen, noch mehr Unterstützung, Rückhalt und Stärkung gewünscht.
wertschätzung Wenn er durch seine Heimatstadt Detmold läuft, begegnen ihm viele Menschen, die ihn grüßen und wertschätzen. Denn Kellig ist ein umgänglicher und sehr kommunikativer Mensch. Zu Veranstaltungen begleitet ihn manchmal die Historikerin Gudrun Mitschke-Buchholz.
Sie kümmert sich seit Jahren darum, anderen Menschen jüdische Geschichte zugänglich zu machen. So auch die jüdische Vergangenheit der historischen Michaelkapelle. Die ortskundige Historikerin zeigt auf den kleinen Weg etwas abseits der großen Straße. Dort steht, etwas eingerückt in die Häuserzeile, ein schmales Fachwerkhaus.
Fachwerksynagoge Es ist die ehemalige Synagoge, die heute von der anthroposophischen Gemeinde genutzt wird. 1905 hatte die damalige jüdische Gemeinde das Gebäude an einen Gastwirt verkauft, um an anderer Stelle ein neues Bethaus zu errichten.
Dieses fiel später der Zerstörungswut der Nationalsozialisten zum Opfer. Die kleine ehemalige Fachwerksynagoge ist hingegen erhalten geblieben, auch wenn vom jüdischen Leben heute dort nichts mehr zu finden ist.
Mitschke-Buchholz hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Namen der jüdischen Familien ihrer Stadt zu recherchieren, und eines begeistert sie: wenn sich Namen, Bilder und Familiendaten wie Puzzleteile zusammenfügen, um Lebensbilder wieder sichtbar zu machen.
Auch in Herford gibt es ein reiches jüdisches Erbe.
Die Stadt Herford verfügt ebenfalls über eine jüdische Vergangenheit. Es gibt Überlieferungen, dass sich eine Reichsäbtissin mit jüdischer Hilfe den Bau ihrer Münsterkirche finanzieren wollte. Aus dem Jahr 1306 stammt eine entsprechende Urkunde. Sonst ist die Geschichte der Juden auch hier eine wechselvolle, seit dem Mittelalter von Freude und Leid geprägt.
Führungen Seit 30 Jahren engagiert sich Christoph Laue, der Herforder Stadtarchivar, für die Fragen rund um das jüdische Leben. Oft lädt er zu Führungen ein und erklärt die Details an jenem Platz, wo heute die neue Synagoge steht. Auch hier wüteten 1938 in der Pogromnacht die Flammen und legten das ursprüngliche Gebäude in Schutt und Asche. »Wir haben die Grundsteine wiedergefunden. Ein Teil davon liegt nun vor dem neuen Haus.«
Der Historiker ist im Kuratorium »Erinnern, Forschen, Gedenken« aktiv und betreibt dort im Team mit anderen die Gedenkstätte Zellentrakt in Herford. Es geht um die NS-Zeit, die Verfolgung und die Frage: Was lernen wir daraus? Wie vermitteln wir diese Geschichte?
»Nach 1945 hat sich die Stadt schwergetan mit dem Aufarbeiten der Schoa«, erzählt Christoph Laue und verweist darauf, dass es in den 60er-Jahren einen Bürgermeister gab, der damals als Erster einen Vortrag über Juden in Herford gehalten hatte. »Über 20 Jahre gab es keine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Dann – 1978 – stellte die Gemeinde hier einen Gedenkstein auf.«