Lüdenscheid ist eine weder große noch kleine Stadt am Rand des Sauerlandes. Eine normale Kommune mit etwas über 70.000 Einwohnern. Viele Juden haben dort nie gelebt, aber eine kleine Gemeinde konnte sich immerhin etablieren. Insgesamt sind es etwa 270 Juden, von denen man weiß, dass sie in Lüdenscheid gelebt haben und unter der NS-Herrschaft verfolgt oder ermordet wurden.
Es ist die von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft geprägte Normalität Lüdenscheids, die eine jüngst in gründlich überarbeiteter dritter Auflage erschienene Studie wertvoll macht. Schicksale der Jüdinnen und Juden aus Lüdenscheid heißt sie, wurde geschrieben von Hans-Ulrich Dillmann, einem früheren Redakteur dieser Zeitung. Für den Geschichts- und Heimatverein hat Dillmann diese Fleißarbeit übernommen.
Ein bekannter jüdischer Lüdenscheider war der Komponist Kurt Weill
Er stellt die Biografien dieser 270 Menschen vor – für die dritte Auflage konnte er die Lebensgeschichten von 15 weiteren aufspüren. Alphabetisch reicht seine Personenrecherche von »Artmann, Abraham«, der mit seiner Familie nach Amerika fliehen konnte und von dessen Bruder Leo Artmann man nur weiß, dass er »in einem der Vernichtungslager im Osten Europas« ermordet wurde, bis »Wolff, Laura«, die im Alter von 47 Jahren 1942 im Ghetto Zamość ermordet wurde.
Ein bekannter jüdischer Lüdenscheider war der Komponist Kurt Weill – aber nur kurz Anfang der 1920er-Jahre. Nach seiner Zeit als Kapellmeister am Lüdenscheider Stadttheater war er froh, vom Sauerland nach Berlin zu gehen, wo er mit Bertolt Brecht die Dreigroschenoper schrieb.
Aus Lüdenscheid stammt auch die Familie Lennhoff. Schon 1756 wird ein »Leifmann Lazarus« schriftlich erwähnt, die Behörden machten aus seiner Familie Mitte der 1850er-Jahre die Familie Lennhoff. Sie ist eng mit der Stadtgeschichte verbunden. Der Kaufmann Hugo Lennhoff etwa betrieb ein Modegeschäft und war zugleich in der kleinen Synagogengemeinde aktiv. Die Eheleute Hugo und Ella Lennhoff mussten 1934 nach Boykottaktionen ihr Geschäft an die Essener »Konsum-Anstalt Hartleif« verkaufen. Ella Lennhoff wurde als Geschäftsführerin gekündigt, Hugo starb 1937 nach einem Schlaganfall.
Ella Lennhoff gelang es, nach Palästina zu fliehen, wo ihre Tochter seit 1936 lebte. Die Familie Lennhoff war weit verzweigt. Einige kamen in den Vernichtungslagern der Nazis um, andere starben verarmt in den 30er-Jahren, und einer Verwandten, Hildegard Lennhoff, gelang es, sich der Deportation zu entziehen; sie lebte als »U-Boot« in ständig wechselnden Verstecken. Im März 1945 hielt sie sich in Würzburg auf, wo sie Opfer eines Angriffs der britischen Luftwaffe wurde. Sie starb und wurde 1946 als »verschollen« erklärt.
Dillmanns Buch ist eine Rechercheleistung, die man sich für jeden Ort wünscht
Solche Familiengeschichten sind es, die die statistischen Angaben, die es auch über Lüdenscheider Juden gibt, lebendig werden lassen. Dillmanns Verdienst ist es, dass durch seine Recherche Menschen, die man gemeinhin als unbekannt, unauffällig, ja, als normal bezeichnet, vor dem Vergessen bewahrt werden. Es sind die Familie Lennhoff oder der Wäschevertreter Abraham Artmann, an den erinnert wird.
Andere Lebensgeschichten verweisen zum Beispiel auf den Inhaber eines Textilgeschäfts, auf eine Haushälterin, einen Werkzeugmacher, einen Schaufensterdekorateur oder auf eine Familie, die eine Metzgerei betrieb. Etliche von ihnen waren getauft und sich oftmals ihrer jüdischen Herkunft nicht bewusst. Es waren normale Menschen. Dillmanns Buch ist eine Rechercheleistung, die man sich für jeden Ort wünscht. Und die zugleich auch dann die Lektüre lohnt, wenn man biografisch mit der Stadt Lüdenscheid nichts zu tun hat.
Hans-Ulrich Dillmann: »Schicksale der Jüdinnen und Juden aus Lüdenscheid«. Hrsg. vom Geschichts- und Heimatverein Lüdenscheid. Aktualisierte Auflage 2024, 408 S., 19,80 €