Eine Frau, die versonnen aus dem Fenster schaut und ein wenig im Halbschatten sitzt, ein tätowierter Mann in einem roten Barockstuhl, der etwas skeptisch, aber auch selbstbewusst blickt. Es sind wie durch Zufall inszenierte Bilder wie diese, die das Reportage-Fotobuch Mischpoche. Being Jewish, however so besonders machen.
Dazu ein ungewöhnliches Layout, mal sind es Interviews, mal O-Ton-Schnipsel, einige auf Deutsch, andere hingegen auf Englisch verfasst. Einen festen Rhythmus oder ein vorgefertigtes Raster wird man unterdessen vergeblich suchen. »Ich wollte die Menschen so authentisch wie möglich darstellen und sie selbst zu Wort kommen lassen«, erklärt Jan Zappner sein ungewöhnliches Buch und das dazugehörige Ausstellungskonzept.
Vier Generationen: Jede hat ihre eigene Geschichte.
Auftakt war eine gut besuchte Ausstellungseröffnung in der Galerie »erstererster« in der Pappelallee im Prenzlauer Berg in der vorvergangenen Woche. Über 300 Menschen kamen in der Pop-up-Galerie vorbei; viele davon nahmen sich tatsächlich die Zeit, um die zahlreichen Motive ausgiebig zu betrachten und die dazugehörigen Geschichten über QR-Codes an den Wänden auf ihren Smartphones abzurufen.
»Diese Kombination ist wirklich einzigartig!«, freut sich Andreas Schmetzstorff. »Dadurch erschließen sich diese berührenden Geschichten noch mehr.« Anschließend sollen die insgesamt rund 48 gerahmten Bilder auf eine bundesweite Wanderausstellung geschickt werden, so der Wunsch des Fotografen.
Bewusstsein Was ist jüdisch? Und was bedeutet ein jüdisches Bewusstsein im Jahr 2022, insbesondere in einer Großstadt wie Berlin? Dieser Frage geht Zappner anhand von 29 Porträts auf rund 220 Seiten nach. Ein Hardcover in cremefarbenes Leinen gebunden, der Titel – ganz dick – in Yves-Klein-Blau aufgedruckt.
Es sind kunstvolle Abbildungen von Frauen wie von Männern; einige aufwendig inszeniert, andere wie aus dem Handgelenk geschossen. Von Jungen wie von Älteren und Hochbetagten, 29 Einzelschicksale von Menschen, zwischen 20 und 90 Jahre alt. Vier Generationen, jede hat ihre eigenen Geschichten. Jedem der Porträtierten wird Raum gegeben, um sich zu äußern, was die eigene Einstellung zum Judentum betrifft – zur Herkunft oder zur Identität.
Behutsam trägt Zappner Fragmente zu einem Gesamtbild zusammen. Das Ergebnis ist ein kleines Gesamtkunstwerk. »Über das Buch- und Ausstellungskonzept von ›Mischpoche‹ habe ich lange nachgedacht. Das war schon ein Herzensprojekt«, sagt der 49-Jährige. Doch genauso lange habe er auch gebraucht, um endlich Auschwitz zu besuchen. Das Buch sei ein Meilenstein bei seiner eigenen Spurensuche gewesen.
Tschechien Seine Mutter, Gabriela Richartz, kommt ursprünglich aus Tschechien. Ihr Vater Erwin Zappner war Jude und hat den Holocaust überlebt. Mindestens 27 Angehörige wurden hingegen in Auschwitz ermordet. Davon hat Zappner allerdings erst als Jugendlicher erfahren. »Ich bin in Stuttgart aufgewachsen, und meine Mutter, die damals meinen deutschen Vater während der Studienzeit kennenlernte, hat mir irgendwann ganz beiläufig davon erzählt«, erinnert er sich.
Als Kind habe er in den Sommerferien viel Zeit in der damals noch kommunistischen Tschechoslowakei verbracht, meistens im Zeltlager. Erst viel später habe er sich Gedanken über die jüdische Herkunft der Familie gemacht. Genau genommen sei er also gar kein Jude.
»Dennoch fühle ich dieses Erbe, diese Verbundenheit«, sagt Zappner – für dieses Band, für das es keiner weiteren Erklärung bedarf. Ebenso wie für die Protagonisten, ganz gleich, ob streng gläubig, nicht gläubig, schwul, hetero, reich, arm oder was auch immer. Weder Zappner noch sein Buch passen in herkömmliche Schubladen.
Festjahr Bildband, Reportage-Sammlung, Coffee Table Book, wen kümmert das schon? »Mischpoche« – der Begriff sei bewusst gewählt. Etwas ganz und gar eigenes. Das zeigt sich auch im Vertrieb des Buchs. »Da das Projekt, also die Ausstellung wie auch das Buch, im Rahmen des Festjahres ›1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland‹ mit öffentlichen Geldern gefördert wurde, kann es nicht verkauft werden«, so der Künstler.
Wohl aber kann es gegen einen Unkostenbeitrag von sechs Euro für den Versand sowie gegen eine empfohlene »Spende« von rund 20 Euro beim Projekt-Partner AMCHA Deutschland e.V. bestellt werden.
Die NGO hat es sich zur Aufgabe gemacht, traumatisierte Schoa-Überlebende zu unterstützen. Ein guter Kooperationspartner, findet Zappner, dessen idealistisches Projekt auch von »Jüdisches Leben in Deutschland« sowie vom »Bundesministerium des Innern und für Heimat« im Rahmen des Festjahrs unterstützt wurde.
Respekt »Being Jewish, however« – so der Untertitel – ist natürlich mit einem Augenzwinkern versehen. Allerdings mit dem gebotenen Respekt gegenüber den Porträtierten.
Das Buch stellt auch fotografisch die Frage, wer oder was schlussendlich darüber entscheidet, wer sich als Jude bezeichnen könnte. »Belief does not make you Jewish, Christian, Muslim or Buddhist. Society does«, lautet die kritische Antwort von Guil Zekri, einem Tattoo-Künstler und Maler aus Köln.
»Mischpoche ist Familie. Und Familie ist mir heilig.«
Sharon Brauner, Sängerin
Was, wenn beispielsweise nur der Vater, nicht aber die Mutter jüdisch war? Eine »Kultur-Jüdin« nennt sich daraufhin selbstbewusst die Journalistin und Schriftstellerin Marcia Zuckermann.
vorfahren Was macht das mit Menschen, wenn über die eigene Herkunft, die Vorfahren, bislang geschwiegen wurde? Über schlichtweg alles, was passiert ist, was besser niemals in der Öffentlichkeit zur Sprache gebracht werden durfte? Zappner gibt den Betroffenen auf behutsame Weise eine Plattform dafür, ihre – sehr persönlichen – Ansichten und Gefühle mit anderen zu teilen. Eine Hommage an das Judentum schlechthin.
»Mischpoche ist Familie. Und Familie ist mir heilig. Nicht nur die eigene, sondern auch die Freunde, die man im Leben dazugewinnt«, sagt die Berliner Schauspielerin und Musikerin Sharon Brauner, deren Uroma im Alter von 80 Jahren in Theresienstadt ermordet wurde. »Besser hätte ich es nicht sagen können«, so Jan Zappner, der sich Erklärungen für seine vierjährige Tochter, der das Buch gewidmet ist, nicht aufheben muss. Seine Bilder sprechen für sich.
Jan Zappner: »Mischpoche. Being Jewish, however«. 220 S. (anzufragen unter www.amcha.de)