An jedem Sonntag geht die Tür der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Wolfsburg für die Kinder auf. Die zehn bis 14 Kids und Jugendlichen sind mit ihren Müttern aus der Ukraine geflohen.
Und »nun möchten wir ihnen etwas anbieten, was sie hier in Deutschland auch brauchen, eine Sonntagsschule«, berichtet Dimitri Tukuser, Vorsitzender der Liberalen Jüdischen Gemeinde Region Braunschweig-Wolfsburg. Glücklicherweise konnte die Gemeinde vor Kurzem in ein neues Domizil ziehen. Denn das Haus, in dem sie bis dahin ihre Räumlichkeiten hatte, war in einem schlechten Zustand und ist mittlerweile abgerissen worden.
veranstaltungen Jetzt gibt es endlich einen großen Raum, in dem die Gottesdienste gefeiert werden und wo sich Mitglieder und Interessierte auch zu Veranstaltungen treffen können. Zusätzlich verfügt die Gemeinde über eine geräumige Küche, in der regelmäßig gemeinsam gekocht und gebacken werden soll. Wolfsburg zählt 125.000 Einwohner. Neben der Liberalen Gemeinde gibt es auch eine orthodoxe.
Jedes zweite Mitglied der Gemeinde engagiert sich und arbeitet ehrenamtlich mit.
An diesem Nachmittag mitten in der Woche ist schon alles für den kommenden Sonntag vorbereitet: Die fünf bis sechs Tische stehen wie kleine Inseln im Raum – und jeder lädt mit eigenen Materialien ein, sich hinzusetzen und loszulegen. Buntstifte liegen bereit, ebenso Papier, jeder kann Platz nehmen, um ein Bild zu malen. Auf dem Tisch daneben stehen Spiele, Materialien zum Rechnen auf einem weiteren.
»Es gibt viel zu tun, wir möchten helfen und haben beschlossen, den Kindern diese Stunden, in denen sie beschäftigt sind und gefördert werden, anzubieten«, so der Vorsitzende. Schulen und Kindergärten sind sonntags immer geschlossen. »Mit unserem Angebot versuchen wir, die Lücke in der Kinder- und Jugendbetreuung am Wochenende zu schließen und so den Kindern und ihren Eltern ein attraktives Angebot zu machen
Musik Jedes zweite Gemeindemitglied engagiert sich und arbeitet ehrenamtlich mit: Lehrer, Ingenieure und Buchhalter. »Es gibt keine ehemaligen«, betont Dimitri Tukuser. Ein gemeinsames Essen ist mittlerweile zu einem netten Ritual geworden. Auch die Musik kommt nicht zu kurz: Singen steht ebenfalls auf dem Stundenplan dank Oleg Nikolenko.
»Wir singen ukrainische Lieder, die die Kinder bereits kennen, und lernen neue. Im Gesangsunterricht versuche ich, mit den Kindern Ukrainisch zu sprechen«, so der 73-Jährige. »Warum mache ich das? Die Kinder sollten nicht vergessen, woher sie kommen und wer sie sind. Wir singen auch russische Lieder aus den Zeichentrickfilmen, die bei ihnen populär sind.« Und es würden jetzt auch deutsche Kinderlieder einstudiert, erzählt Nikolenko.
Mittlerweile fördern Gemeindemitglieder jeden Mittwoch die ukrainischen Mütter und deren Kinder mit einem zusätzlichen Angebot für Deutschunterricht. Ihr Interesse an der Sprache sei groß, so der Vorsitzende. Damit sie Deutschland besser kennenlernen, gibt es zudem Stadtführungen und kleine Ausflüge – nach Braunschweig, Goslar oder in den Harz. Dennoch sei die Organisation und Umsetzung der Sonntagsschule eine Herausforderung, so der 67-Jährige.
Flucht Die 41-jährige Inna Bitter, die Mitglied der Gemeinde ist, ist sehr bewegt von den Schicksalen, die ihr hier begegnen. Beispielsweise das der Mutter, die mit ihren Kindern auf der Flucht aus Charkiw war und berichtete, dass sie oft im Flur ihrer Wohnung saßen, wenn die Bomben fielen, da er ihnen als sicherer Ort schien. Ihr Sohn sei nach den ersten Tagen der Bombardierung zunehmend ängstlich geworden.
Eine andere Frau erzählte, wie die Familie in einem nassen Keller ausharrte, bis die Kinder am zweiten Tag Fieber bekamen und sie spürte, dass sie die Stadt schnellstens verlassen mussten. Es sind Geschichten wie diese, die Inna Bitter und die anderen Ehrenamtlichen motivierten, aktiv zu werden.
Vor 17 Jahren wurde die Liberale Gemeinde gegründet. Heute zählt sie 31 »halachische Jüdinnen und Juden«, wie Tukuser betont. Zweimal im Monat kommen sie zu Gottesdiensten zusammen, ebenso werden die jüdischen Feiertage begangen, zu denen ein Rabbiner und ein Kantor anreisen. »Wir unterstützen freitags auch gerne unsere Mitglieder, zu Hause Schabbat zu feiern. Das hat uns zu Coronazeiten sehr geholfen.«
Erfahrungen Die Gemeinde arbeitet mit mehreren Schulen zusammen. »Wir wollen den Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Demokratieerlebnisprogramms ›Betzavta – Miteinander‹ spannende und authentische Erfahrungen ermöglichen«, sagt Dimitri Tukuser, der viele Jahre als Sozialarbeiter an einer sogenannten Brennpunktschule gearbeitet hat.
Ferner bietet man allen Interessierten einen Diskussionskreis zur Modernen Haskala an, Vorträge zur jüdischen Wohlfahrtspflege, zu Kunst und Kultur und zu modernem jüdischen Leben in der Diaspora sowie Projekttage »Schritte gegen Tritte« und »VORFAHRT für VIELFALT«. Für die kleinsten Besucher gibt es das »Judentum aus der Zauberkiste«. In der Bibliothek stehen mehr als 1200 Bücher und andere Medien zu den Themen Juden und Judentum, Belletristik von jüdischen Autoren und jüdische Musik bereit.
Die Jüdische Gemeinde ist Teil des interreligiösen Trialogs in Wolfsburg.
Seit drei Jahren besitzt die Gemeinde sogar eine eigene Torarolle und einen Toraschrank – »was uns besonders glücklich macht, aber auch Verantwortung auferlegt«. Ferner ist die Gemeinde Teil des interreligiösen Trialogs in Wolfsburg und aktives Mitglied der Israel-Jacobson-Gesellschaft.
kooperationen Zudem gab es in den vergangenen 17 Jahren Kooperationen mit anderen Schulen und Vereinen und vier große sowie einige kleinere Ausstellungen in Wolfsburg, beispielsweise Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte. Das Konzept wurde vom Anne-Frank-Haus in Berlin übernommen. Weitere Themen lauteten: »Kinder malen Krieg« und »Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben«.
Trotz Corona hatte die Gemeinde im vergangenen Jahr den Vierten Jüdischen Kulturherbst in Wolfsburg auf die Beine gestellt. »Dank der Unterstützung des Zentralrats der Juden in Deutschland war es uns möglich.« Auch in diesem Herbst soll er wieder stattfinden. Zwei Themen werden dann im Mittelpunkt stehen: Janusz Korczak, der jüdische Pädagoge und Humanist, sowie der Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gerade dieser verursacht einen großen Schmerz unter den Mitgliedern, weil viele von ihnen aus diesem Land kommen, betont der Gemeindevorsitzende.