Er hat seinen Wehrpass nie weggeworfen. An diesem Sonntag hält Majer Szanckower ihn wieder in den Händen. Ein graues Stück Pappe mit dem Bundesadler auf der ersten Seite und im Innern einem Abbild seines jüngeren Selbst. Das Dokument aus dem Jahre 1965 bestätigt seine grundsätzliche Wehrtauglichkeit. Doch für den Friedhofsverwalter der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt war es seinerzeit undenkbar, Dienst in der Bundeswehr zu tun. »Es wäre mir unmöglich gewesen, in der Uniform vor meine Eltern zu treten.«
Szanckowers Eltern waren Überlebende der Schoa, Displaced Persons, gestrandet im Berlin der Nachkriegszeit. Ihm als Nachkomme stand es offen, sich auf Antrag vom Wehrdienst befreien zu lassen, wie er es schließlich auch tat. Wie es fast alle Nachfahren von Schoa-Überlebenden taten, als man in den jüdischen Gemeinden noch davon ausging, im geteilten Deutschland nur auf gepackten Koffern zu sitzen.
Bundeswehr Für diesen Sonntag hat Majer Szanckower den alten Wehrpass noch einmal herausgekramt und hält ihn dem Publikum im Plenarsaal des Frankfurter Römer entgegen. »Ich wusste nie genau, warum ich ihn behalte. Irgendwie dachte ich, ich könnte ihn noch gebrauchen.« Jüdische Soldaten in deutschen Streitkräften. Es ist ein Reizthema. Auch heute noch, wo gut 200 jüdische Deutsche ihren Dienst in der Bundeswehr verrichten.
Ebenso viele Zuhörer sind zu einer Mischung aus Gedenkstunde und Seminar in das Frankfurter Rathaus gekommen. Die Stadtverwaltung hatte quasi ihr Allerheiligstes zur Verfügung gestellt, den Plenarsaal, in dem sonst die Stadtverordnetenversammlung tagt. Im Mittelpunkt soll an diesem Sonntag eine Zeit stehen, in der es vielen – wenn nicht gar den meisten – Juden in Deutschland nur allzu selbstverständlich erschien, für das »deutsche Vaterland« in den Kampf zu ziehen: der Erste Weltkrieg.
Nationalismus Eingeladen hat der Arbeitskreis »Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg«, ein Zusammenschluss unterschiedlichster Organisationen, darunter der Bund Jüdischer Soldaten (BJS), das Jüdische Museum, die B’nai B’rith Loge oder der Frankfurter Kreisverband der Deutschen Kriegsgräberfürsorge, unter der Schirmherrschaft der Stadt Frankfurt. Man sei zusammengekommen, um sich eines »schwierigen Themas« anzunehmen, sagte Moderator Doron Kiesel. Nicht nur, weil sich Juden an einem Krieg beteiligten, in dem der Nationalismus auf allen Seiten blühte, sondern auch, weil es für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die Geschichte einer enttäuschten Hoffnung war. »Wir reden von einer Zeit, in der Juden in Deutschland den Eindruck hatten, in der Gesellschaft angekommen zu sein«, so Kiesel.
1914 ist nicht nur das Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, für die Juden in Deutschland ist es das Jahr 50 nach der endgültigen Emanzipation, der zumindest rechtlichen Gleichstellung in Deutschland. Bereits 1870/71 zogen jüdische Soldaten in den Einigungskrieg gegen Frankreich. Die Offiziersränge aber blieben ihnen noch verwehrt. Das änderte sich mit dem Attentat von Sarajevo und dem Sterben vor Verdun.
erzfeinde Briefe der Frontsoldaten an ihre Verwandten in der Heimat, 100 Jahre später vorgetragen von Schülern der Lichtigfeldschule, strotzen nur so vor deutschem Patriotismus. Gleichzeitig betonen alle Verfasser, auch als Juden in den Krieg zu ziehen: gegen den Erzfeind Russland, der das jüdische Volk quäle und ermorde. Gegen eine Verschwörung der Alliierten. Vor allem aber für Deutschland, das nach den Worten des Kaisers weder Parteien noch Konfessionen kennen sollte. Ein Trugschluss, wie sich bald herausstellte.
»Was wollen sie denn noch mehr als unser Blut?«, fragt ein jüdischer Frontsoldat beinahe verzweifelt in einem seiner Briefe. 1916, mitten im Krieg, ordnet der preußische Kriegsminister eine »Judenzählung« bei den Streitkräften an. Zuvor waren in der deutschen Öffentlichkeit Beschuldigungen laut geworden, dass sich deutsche Juden massenhaft um den Dienst an der Waffe drücken würden.
»Judenzählung« Der Kriegsminister wollte es genau wissen: Wie viele Juden taten in den Einheiten Dienst? Wie viele waren gefallen, wie viele ausgezeichnet worden? »Es ging letztlich darum, zu beweisen, dass sich die deutschen Juden kollektiv ihrer Verantwortung für das Vaterland entziehen«, erläuterte Michal Grünwald, Kuratorin des Jüdischen Museums in Frankfurt. Jüdische Soldatenverbände hatten zu diesem Zeitpunkt bereits damit begonnen, ihre eigene Zählung durchzuführen. Es war nicht so, als ob man nicht mit der Rückkehr des Antisemitismus gerechnet hätte – allerdings erwartete man ihn erst für die Zeit nach dem Krieg.
15 Jahre später mussten die jüdischen Veteranen des Ersten Weltkriegs erleben, wie der Verdacht zur Staatsdoktrin wurde. Die Erinnerung an die Zeit davor, als man in das Kaiserreich so viele Hoffnungen setzte und derart bitter enttäuscht wurde, ging verloren. »Wir wollen die Erinnerung aus grauem Nebel hervorholen«, sagte Gideon Römer-Hillebrecht vom Bund jüdischer Soldaten.
Veteranen Ein schwieriges Unterfangen. In Frankfurt wird erst seit 2008 auf dem jüdischen Friedhof überhaupt wieder der Veteranen des Ersten Weltkriegs gedacht. An diesem Sonntag näherte man sich dem Thema behutsam wieder an. Birgit Seemann von der Frankfurter Fachhochschule (FH) referierte über die jüdische Krankenpflege im Ersten Weltkrieg, Logen-Präsident Ralph Hofmann über die karitativen Aktivitäten der B’nai-B’rith-Loge. Es ist der Versuch, die zerstörten Steinchen eines alten Mosaiks wieder zusammenzusetzen.
100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg dienen wieder jüdische Soldaten in der deutschen Armee. Hauptsächlich Nachfahren von Auswanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, wie Gideon Römer-Hillebrecht berichtete. »Man kann natürlich darüber diskutieren, ob ein Dienst in Israel nicht mehr bringen würde für das jüdische Volk«, sagte er. Aber man müsse eines zur Kenntnis nehmen: »Es gibt welche, die zeigen wollen, ja, das kann klappen.«