Ein Baum auf der Freundschaftsinsel in Potsdam, mit dickem Stamm, mit Unebenheiten, eingeritzten Herzen, mit tiefen Wurzeln – daran konnte Esra Rotthoff einfach nicht vorbeigehen, denn dieser Baum steht, so beschreibt es die Künstlerin und Artwork-Verantwortliche des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg (JFBB) im Video, sinnbildlich für die jüdische Kultur. Und genau dieser Baum hat nun zum Filmfestival eine Familie bekommen, eine »Jewcy Movie Family«.
Jeanine Meerapfel sitzt neben ihm, die Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg steht an seiner Seite, Peter Sauerbaum, Intendant des Jüdischen Theaterschiffs, ebenfalls und viele andere aus dem JFBB-Team.
Wer am 14. Juni zur Eröffnung in Potsdam geht, wird ihn spätestens dann kennenlernen, den Baum von der Freundschaftsinsel und seine Familie, und er wird die Besucherinnen und Besucher des Festivals sechs Tage lang auf Plakaten begleiten. In diesen sechs Tagen werden auf dem JFBB 43 Spiel- und Dokumentarfilme sowie zwei Serien über jüdische Geschichte, Gegenwart und Zukunft in Kinos der Region zu sehen sein.
Veranstaltung Als Nicola Galliner das Filmfest 1995 begründete, damals noch als Teil des Kulturprogramms der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, konnte wohl niemand ahnen, dass daraus die größte Veranstaltung ihrer Art in Deutschland werden würde. Ihr damaliges Anliegen, »jüdisches Leben, jüdische Biografien nicht in einer tradierten, oft ausschließlichen ›Opferrolle‹ abzubilden« und zu zeigen, »dass das Judentum vor allem eines ist, nämlich höchst lebendig«, traf aber offenkundig den Nerv des Publikums.
In diesem Jahr ist die Hommage Jeanine Meerapfel gewidmet, der in Argentinien aufgewachsenen Präsidentin der Berliner Akademie der Künste. Der Film Eine Frau eröffnet das Festival. Meerapfel setzt sich darin mit der Biografie ihrer Mutter, Marie Louise Chatelaine Meerapfel, auseinander. Auch ihr preisgekrönter Film Die Kümmeltürkin geht aus dem Jahr 1985 wird auf dem JFBB gezeigt werden.
Insgesamt vier Preise werden in diesem Jahr verliehen. Im Bereich Spielfilm und Dokumentarfilm sind dies die »Gerhard (Gershon) Klein«-Preise, die von der Familie des erfolgreichen, 1970 verstorbenen DEFA-Regisseurs gestiftet wurden. Über den besten israelischen Film kann das Publikum online entscheiden, er wird dann mit dem JFBB & Seret-Publikumspreis ausgezeichnet. Außerdem gibt es den »Preis für interkulturellen Dialog« und den Preis zur Förderung des filmischen Nachwuchses.
Im Mittelpunkt steht eine Hommage an Jeanine Meerapfel.
Auch die beiden Jurys des JFBB sind prominent und fachkundig besetzt: So entscheiden unter anderem die Regisseurin Ester Amrami (Anderswo), der Regisseur Peter Kahane (Die rote Zora), die Filmemacherin Yael Reuveny (Promised Lands) und die künstlerische Leiterin der Haifa Cinematheque, Nugit Altschuler, über die zu vergebenden Preise.
Kibbuz Die Filme laufen in mehreren Sektionen. In »Nosh Nosh« sind Kurzfilme zu sehen, in »Serial Fresh« Serien, und in »Kino Fermished« gibt es ein filmisches Potpourri.
Dort läuft auch der Dokumentarfilm Apples and Oranges. Regisseur Yoav Brill erzählt darin die Geschichte einer ganz besonderen Jugendkultur, nämlich die der Volunteer-Arbeit in den Kibbuzim. 1963 schickten zwei junge Schweden einen aus heutiger Sicht naiv anmutenden Brief ab: Sie würden gern im Sommer in einem Kibbuz arbeiten, schrieben die beiden 18-Jährigen, aber sie wüssten nicht viel über die Kibbuz-Bewegung, und ob man ihnen vielleicht ein paar Infos schicken könnte. In Schweden habe man sehr viel auf Bauernhöfen gearbeitet, »wir halten eine Menge harter Arbeit aus«, schrieben die beiden, und im Sommer hätten sie 50 Tage Zeit, in einem Kibbuz zu helfen. Nun sind junge Leute aber auch damals schon junge Leute gewesen, und deswegen blieb es für die internationalen Volunteers nicht nur bei der Obsternte. Unter der Überschrift »Clash der Kulturen im Kibbuz« beschrieb ein Bericht in der »Jerusalem Post« die Probleme: Sex, Partys, Alkohol, Drogen, dazu kamen Klagen der Volunteers, ausgenutzt zu werden. Dass 739 Ehen zwischen Juden und Nichtjuden geschlossen wurden, freute zudem nicht alle. In den 80er-Jahren ebbte das Freiwilligenprogramm schließlich ab, auch weil es Sicherheitsbedenken gab.
Zwillinge Adam & Ida – Almost a Fairytale erzählt die Geschichte jüdischer Zwillinge, die 1942 im Alter von drei Jahren in Polen getrennt wurden. Mehr als 50 Jahre später finden sie einander wieder, Adam hat mehrere Konzentrationslager überlebt und wurde später adoptiert, Ida wurde von einem polnischen Ehepaar versteckt.
Der französische Spielfilm Rose, beim Filmfest von Locarno ausgezeichnet mit dem Variety Piazza Grande Award, beginnt mit einem ausgelassenen Fest. Philippe hat Geburtstag und genießt die Feier sichtlich. Dass er schwer krank ist, wissen zu diesem Zeitpunkt nur seine Kinder. Regisseurin Aurélie Saadas Rose behandelt sehr unterhaltsam Themen, über die es in Filmen nicht oft geht, denn alte Frauen sind für Hollywood meistens unsichtbar: Sex im Alter, den Umgang mit Trauer und gesellschaftlichen Konventionen.
Begleitet wird das JFBB von einem musikalischen, gelesenen und tanzbaren Rahmenprogramm, zu dem unter anderem ein Konzert der israelischen Musikerin Yael Naim am 9. Juni, Veranstaltungen auf dem Theaterschiff MS Goldberg und zum Abschluss die vielleicht schönste Party in Berlin und Brandenburg, nämlich »Die Schöne Party« im Berliner Frannz Club am 18. Juni, gehören. Wer bis dahin im Kino gesessen hat, der kann nach 42 Filmen und zwei Serien auch gut etwas Bewegung vertragen.