Porträt der Woche

»Jeder kann das schaffen«

»Wer gute Noten bekommt, hat wieder mehr Spaß an der Schule«: David Weinstock (21) aus Berlin Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

»Jeder kann das schaffen«

David Weinstock wurde vom Schulschwänzer zum Einser-Schüler und Buchautor

von Jakob Mühle  22.09.2015 10:51 Uhr

Ich habe einmal gelesen, dass man sich am Ende seines Lebens am meisten über die Dinge ärgert, die man nicht getan hat. Deshalb war es mir immer wichtig, alles auszuprobieren, worauf ich Lust habe, und keine Ausreden zu erfinden. Ob ich mir nun vornehme, besser in der Schule zu werden oder ein Buch zu schreiben: Wenn ich etwas wirklich will, dann habe ich einen Tunnelblick und schaffe es auch, das bis zum Ende durchzuziehen.

Auf diese Weise wurde ich zum besten Abiturienten des Jahrgangs 2014 am Jüdischen Gymnasium in Berlin-Mitte – obwohl ich noch zwei Jahre zuvor nur Vieren, Fünfen und sogar eine Sechs auf dem Zeugnis hatte. Auch, wenn ich dadurch von mir überzeugt wurde – im Alltag habe ich manchmal Angst davor, dass mir Sachen nicht so gelingen, wie ich es eigentlich geplant habe.

familie Vielleicht liegt das auch daran, dass ich als Kind noch ziemlich schüchtern und zurückhaltend war. Auf der Grundschule hatte ich nur einen bis zwei richtige Freunde: Denn es fiel mir schwer, auf die anderen Kinder zuzugehen. Viel wichtiger war mir meine Familie: meine Eltern und meine Schwester Estelle, die immer sehr liebevoll zu mir waren. Dass meine Eltern heute noch immer glücklich zusammen sind, ist enorm wichtig für mich.

Meine jüdische Identität war bei allem immer selbstverständlich. Ich war die meiste Zeit meines Lebens in jüdischen Gemeinschaften integriert und habe jüdische Schulen besucht. In der nichtjüdischen Umgebung, etwa im Sportverein, habe ich meine Herkunft in der Regel nicht an die große Glocke gehängt. Wenn es dann doch zur Sprache kam, wollten die Leute meistens wissen, wie es so ist, als Jude in Deutschland zu leben. Ich habe dann immer geantwortet: »Normaler als du denkst.«

Meine Familie versteht sich als liberal. Wir gehen zu den großen Feiertagen wie Rosch Haschana oder Jom Kippur in die Synagoge, im Alltag aber eher selten. Neben der religiösen Seite des Judentums ist es mir vor allem wichtig, guten Kontakt zu Israel zu pflegen und das Land zu unterstützen. Große Teile meiner Familie leben seit 70 Jahren dort, und wir besuchen uns regelmäßig gegenseitig. Vorbehalte dagegen, dass wir in Deutschland leben, gibt es überhaupt nicht. Im Gegenteil: Israelis lieben es, Berlin zu besuchen. Es kommt häufig vor, dass sich Verwandte mehrere Wochen oder sogar einen Monat lang bei uns einquartieren.

Meine Schüchternheit hat sich mit der Pubertät etwas gelegt, und ich wurde deutlich offener. Plötzlich war es mir wichtig, viele Freunde zu haben, auf Partys zu gehen, zu trinken und zu kiffen. Obwohl mir die Schule zu dieser Zeit ziemlich egal war, haben meine Eltern mich nie gezwungen, etwas zu lernen, worauf ich keine Lust hatte, sondern haben mich meist machen lassen und mir Ratschläge gegeben. Ich denke, durch diese Freiheit konnte ich mich erst richtig entfalten.

schule Damals sah ein typischer Schultag bei mir so aus: Am Abend vorher habe ich nachgeschaut, welche Fächer für den nächsten Tag auf dem Plan standen. Wenn mir die ersten drei Stunden nicht passten, bin ich am nächsten Morgen halt etwas länger im Bett liegen geblieben und habe ausgeschlafen. Als ich dann gegen Mittag in die Schule kam, habe ich zuerst meine Kumpels begrüßt. In der Regel hatte ich nur einen einzigen Kugelschreiber in der Jackentasche dabei und sonst nicht einmal eine Schultasche.

Im Unterricht ging es darum, Blödsinn zu machen und den Lehrern auf die Nerven zu gehen. Das war alles ganz harmlos: Uns ging es einfach nur darum, in der Schule so viel Spaß wie möglich zu haben und vor den anderen Schülern cool dazustehen. Das war mir extrem wichtig.

Mit 17 habe ich gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann und ich mein Abitur auf keinen Fall schaffe, wenn sich nicht radikal etwas ändert. Ich hatte Versagensängste, die mich fast depressiv gemacht hätten, zum Teil wegen der Schule. Ich war einfach generell unzufrieden mit meinem Leben. Dann habe ich angefangen, Biografien von berühmten Persönlichkeiten zu lesen. Ich merkte ziemlich schnell, was man mit genügend Willenskraft alles schaffen kann.

Ich fragte mich selbst: Wenn David Ben Gurion fast im Alleingang einen Staat wie Israel gründet, warum sollte ich dann nicht ein Abitur mit 1,0 schaffen? Ich wollte einfach beweisen, dass jemand, der bisher schlechte Noten in der Schule hatte, nicht zwangsläufig dümmer ist als ein Einser-Schüler.

plan Am Anfang haben natürlich alle darüber gelacht, als ich ihnen von meinem Plan erzählt habe. Viele meiner Kumpels haben sogar größere Summen Geld darauf gewettet, dass ich es nicht schaffen würde. Auch die Lehrer haben zunächst geschmunzelt, als ich ihnen eröffnete, dass ich vorhabe, von jetzt an nur noch gute Noten zu schreiben. Doch letzten Endes hat mich das nur noch mehr angespornt, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Mir war klar, dass es zunächst wichtig war, meine Wissenslücken aufzufüllen. Es geht um die grundsätzlichen Lücken: Wer nicht weiß, wie lineare Funktionen gelöst werden, der wird das auch bei einer biquadratischen Funktion nicht schaffen.

Die ganzen Sommerferien lang bin ich deshalb mit meinem Nachhilfelehrer alles Schritt für Schritt durchgegangen. Während meine Freunde Spaß im Schwimmbad hatten, saß ich zu Hause und habe Mathe, Physik, Deutsch und Englisch gepaukt. Um mich zu motivieren, schrieb ich 1,0 auf ein großes weißes Blatt Papier und hängte es an die Wand meines Zimmers. Dieses Blatt habe ich bestimmt 100-mal am Tag angeschaut.

beweis Ich war wie besessen von dem Gedanken, es zu schaffen. Momente der Schwäche, in denen ich gezweifelt habe, gab es definitiv. Gerade in meinen Leistungskursen Geografie und Englisch lief es am Anfang nicht so gut wie in den anderen Fächern. Ein paar Mal habe ich meinen Traum von der 1,0 platzen sehen. Doch mit Noten ist es ein bisschen wie mit Drogen: ein Teufelskreis, nur im positiven Sinne. Wer gute Noten bekommt, hat wieder mehr Spaß an der Schule und strengt sich noch ein bisschen mehr an, um noch besser zu werden.

Natürlich habe ich mich auch öfter gefragt, ob es das jetzt wirklich alles wert ist. Aber letzten Endes war immer klar, dass ich das nicht nur wegen der Noten mache, sondern auch, um allen zu beweisen: Ich hab’ das drauf!

Noch bevor sich die ersten Ergebnisse meiner neuen Leistungsbereitschaft in der Schule zeigten, hatte ich die Idee, ein Buch darüber zu schreiben. Ich habe während dieser Zeit viele Ratgeber gelesen, die mir geholfen haben, und wollte deshalb auch einen schreiben, weil ich wirklich überzeugt davon bin, dass das, was ich geschafft habe, auch jeder andere schaffen kann. Während der Abiturphase habe ich Notizen gesammelt und Tagebuch geschrieben, insgesamt 500 Seiten Material. Das Schreiben fiel mir dann erstaunlich leicht.

erfahrung Als ich fertig war, dachte ich, ich hätte das beste Buch der Welt geschrieben. Als das Manuskript vom Verlag zurückkam, war es voller roter Markierungen. Ich habe mich erst ein bisschen darüber erschrocken. Doch letzten Endes haben die Korrekturen es besser gemacht – vergangenen Monat ist es erschienen.

Ob ich immer so überzeugt von mir bin? Es gibt Momente, da ist das nicht so. Zum Beispiel war ich letzte Woche in Stefan Raabs Sendung TV Total. Es war sehr ungewohnt, plötzlich im Rampenlicht zu stehen. Er hat dann auch einen ziemlich fiesen Witz über meine Pausbäckchen gemacht, über den alle gelacht haben. Da war ich erst einmal perplex und wurde sehr ruhig und unsicher. Auf solche Situationen kann man sich eben schwer vorbereiten. Man muss die Erfahrung einfach machen.

Aufgezeichnet von Jakob Mühle

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