Es war Montag, der 4. Februar 2019. Ich schlürfte meinen Frühstückstee und surfte arglos durch die Nachrichten des WDR. Bei einer Schlagzeile blieb ich hängen. Alter! Wie geil ist das denn? In Köln hatte sich ein jüdischer Karnevalsverein gegründet, mit dem genialen Namen »Kölsche Kippa Köpp«. Schneller bin ich noch nie einer Organisation beigetreten. Ein paar Telefonate, E-Mails, ob ich noch irgendwelche Fragen hätte? Nein, eigentlich nicht. Eine Woche, nachdem die Kölsche Kippa Köpp, abgekürzt KKK, die Öffentlichkeit von ihrer Existenz unterrichtet hatten, war ich einer von ihnen.
Sie kennen das. Dieses Gefühl, wenn sich urplötzlich und unerwartet das in sich verschlungene, verknotete, verfilzte Knäuel Ihrer miteinander verfeindeten, in sich widersprüchlichen Identitäten in Wohlgefallen auflöst. Sie sind deutsch, Sie sind jüdisch und darüber ständig in Selbstgespräche verwickelt. Sie gehen einkaufen in der Straße, aus der man Ihre Großeltern deportiert hat, und grüßen recht freundlich.
Sie wissen, dass sich Ihr Fußballverein mit Stolz seiner jüdischen Gründerväter erinnert, und auf der Tribüne beim Anblick der Runenschrift auf der Fahne werfen Sie sich selbst einen mahnenden Blick zu: Das ist Fußball, das ist Tradition, die haben ihren Spaß wie du auch. Ihre Kollegen fragen Sie, wie Sie die neue israelische Regierung finden. Ihre Kinder gehen in eine Schule, die besser bewacht wird als jeder Knast. Und weil das so ist, gehen Sie in die Synagoge, um andere Juden zu treffen, und würden so gern mit ihnen bei Kölsch und Bratwurst, … aber der Gesang des Vorbeters ist auch ganz schön.
Stammtisch Dann kam mein erster Stammtisch. Ein langer Tisch in einem Kölner Traditionsbrauhaus. Da saßen sie, ein Dutzend Kippa Köpp ganz brav in Zivil bei Kölsch und »halvem Hahn« (das ist ein Roggenbrötchen mit mittelaltem Gouda). Die Karneval-Session war vorbei, die Herzlichkeit geblieben. Was ich seitdem von Mal zu Mal erfahre: Jeck und jüdisch – das passt einfach. Dazu ein kurzer Blick in die Geschichte und auf drei Jahreszahlen: 321, 1823, 1922.
Wer im Karneval angekommen ist, hat sein Zuhause gefunden.
321 war das Jahr, in dem eine römische Urkunde die jüdische Präsenz in Köln dokumentierte. Vor zwei Jahren feierten wir das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. 1823 ist das Geburtsjahr des organisierten Kölner Karnevals, der in dieser Session sein 200. Jubiläum feiert. Das Dreigestirn gab es damals noch nicht. Prinz Karneval hieß »Held Karneval«, die Jungfrau »Prinzessin Venetia«, und der erste Kölner, der sie verkörpern durfte, war der jüdische Bankier Simon Oppenheim.
1922 schließlich gründeten Kölner Juden den »Kleinen Kölner Klub«, abgekürzt KKK, den weltweit ersten und lange einzigen jüdischen Karnevalsverein, der sich schnell in das Geflecht der kölnischen Traditionsgesellschaften und damit in die Stadtgesellschaft einfügte, sowohl intime Feste unter Juden feierte als auch große öffentliche Karnevalssitzungen veranstaltete – bis die Vereinsmitglieder Deutschland verlassen mussten, deportiert wurden, ermordet.
minderheiten Die Kölsche Kippa Köpp stehen in der Tradition des alten KKK. Wer im Karneval angekommen ist, hat sein Zuhause gefunden. Das gilt im Rheinland nicht nur für Juden, sondern für alle Minderheiten. Das tut gut, aber es reicht nicht. Außerhalb der fünften Jahreszeit, immerhin zwei Drittel eines Jahres, sind die Köpp mit dem Ernst des Lebens befasst.
Der Antisemitismus verschwindet ja nicht, wenn man einen jüdischen Karnevalsverein gründet. Karnevalisten lachen viel, aber sie sind nicht naiv, jüdische erst recht nicht. Die Köpp sind das ganze Jahr über dort präsent, wo die Werte Demokratie, Vielfalt und Toleranz verteidigt werden. Die Köpp verlegen Stolpersteine für verfolgte Karnevalisten, laden deren Nachkommen aus der ganzen Welt ins Rheinland ein, wie jüngst die Enkelinnen der Bühnenlegende Hans David Tobar, der zwischen 1905 und 1933 in ganz Deutschland die Festsäle rockte, dann nur noch in jüdischen Gemeinden auftreten durfte und 1939 in die USA emigrierte. Kaum einer kennt heute seinen Namen. Das zu ändern, ist Sinn und Zweck der Kippa Köpp.
Es gibt natürlich Tage, die mitten in der Session liegen, aber einfach nicht lustig sind. Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist so einer. Die Kippa Köpp haben sich dieses Jahr – begleitet von anderen Karnevalsvereinen – am Grab von Emil Jülich versammelt. Der 1854 in Bonn geborene und 1923 in Köln gestorbene Komponist und Mundartdichter liegt auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd. Kein Holocaust-Opfer, sondern eine Biografie, die zeigt, wie gut Karneval und Judentum bis 1933 zusammengingen.
MOTTO Als das Festkomitee Kölner Karneval nach einem Motto für seine Jubliäumssession suchte, stieß es auf eine Liedzeile aus Jülichs Feder: »Ov krüzz oder quer, ov Knäch oder Hähr – mer looße nit un looße nit vum Fasteleer!« Zugegeben, meine Übersetzung ins moderne Hochdeutsch ist eine sehr freihändige, und der Dichter selbst, na klar, hätte sie so nicht denken können. Sie geht so: »Ob kreuz-katholisch oder queer, ob Prolet oder Banker, wir lassen nicht vom Karneval.« Das kölsche Karnevalsmotto 2023, getextet 1905 von einem Juden – ist das nicht wunderbar?
Juden im Karneval? Wer braucht denn so etwas? Wir haben doch Purim.
Und es passt zu den Köpp, denn mitmachen in dem bunten Haufen kann jeder, der reinpasst, egal welcher Herkunft oder welcher Religion, wenn überhaupt. Die Köpp werden beachtet, gehört, respektiert, mehr noch, sie werden geliebt in Köln, im Rheinland und ja, der Ewige ist längst auch einer von ihnen. Da stellt sich natürlich noch eine letzte Frage: Juden im Karneval? Wer braucht so etwas? Wir haben doch Purim.
missverständnisse Räumen wir mit ein paar Missverständnissen auf! Ja, Karneval hat christliche Wurzeln. Es war die Zeit, in der Christen auf den Putz hauten, bevor am Aschermittwoch ihre Fastenzeit beginnt. Aber das ist Geschichte. Mir fällt dazu die Szene aus Judith Kerrs Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ein, in der die Autorin ihren berühmten Vater Alfred Kerr auf die Frage, warum sie als jüdische Familie Weihnachten feiern, sagen lässt: »Für mich war Weihnachten immer ein deutsches Fest.«
Gibt es überhaupt einen jüdischen Karneval? Nein, gibt es nicht. Es gibt nur Juden, die Karneval feiern. Sollten also Juden überhaupt Karneval feiern? Die Frage beantwortet das Leben seit zwei Jahrhunderten. Sie tun es einfach. Und jetzt verrate ich Ihnen ein letztes Geheimnis. Warum werden deutschstämmige Juden in Israel »Jeckes« genannt? Eine verbreitete Erzählung behauptet, die deutschen Einwanderer seien damals selbst in der größten Hitze im Jackett herumgelaufen. Klingt plausibel, aber googeln Sie mal »jeck«!
Der Autor ist Redakteur beim WDR in Köln und Autor des Bestsellers »Der Jude mit dem Hakenkreuz: Meine deutsche Familie«.