Stockholm-Syndrom, Paris-Syndrom, Jerusalem-Syndrom – dieses Phänomen, bei dem es um veränderte Wahrnehmungen zwischen Realität und Fiktion geht, faszinierte mich schon immer. Ich habe aber nicht Psychologie studiert, sondern Modedesign. Das Studium endet mit der Entwicklung und Präsentation einer Abschlusskollektion.
Für jemanden wie mich, der Chen Jerusalem heißt, lag es nahe, meine Kollektion zum Abschluss meines Studiums an der Akademie Mode & Design München (AMD) »The Jerusalem Syndrome« zu titeln. Aber mehr noch hatte mich in all den Jahren davor die Frage bewegt: Wer bin ich? Meine Arbeit war also eine Auseinandersetzung mit meiner Herkunft, mit meinen inneren Quellen.
Geboren wurde ich in Kfar Saba, einer Stadt im Großraum Gusch Dan, etwa 15 Kilometer nordöstlich von Tel Aviv. Meine Eltern wollten nach Deutschland, nach Frankfurt am Main. Hier lebte schon ein Onkel. Er führt das Restaurant »Sohar’s«. Ich war damals zwei Jahre alt, in der Krabbelgruppe der Gemeinde begann ich, die deutsche Sprache zu lernen. Zu Hause haben wir weiter Hebräisch gesprochen.
Wer Erfolg haben will, muss sich gut verkaufen können.
Ich bin in einer traditionell jüdischen Familie aufgewachsen, das hat mich geprägt. Später ging ich auf die jüdische Grundschule. Meine Mutter ist dort Lehrerin. Nach dem Abitur war ich viel unterwegs, auch Berlin war meine Stadt. Der Slogan »Arm, aber sexy« zog damals super viele Künstler an. Berlin war ein Melting Pot, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ich lernte neue Leute kennen. Einer stellte sich so vor: »Hans, Berlin«. Ich erwiderte: »Chen, Jerusalem«. Wir haben gelacht, ich machte dem ungläubigen Staunen ein Ende, hieß ich doch tatsächlich Jerusalem. Es blieb ein Running Gag. Und ich wusste zugleich: Das wird meine Thematik.
IDENTITÄT Ich flog nach Israel, sog alles auf – Entwurf und Umsetzung des Sujets wurden Teil meiner Identität. Viele Elemente an den Outfits erinnern an das orthodoxe Jerusalem: die langen Mäntel, bei den Frauen in klassischem Schwarz. Die langen Schals, die in Arm- und Schulterpartien eingenäht sind, erinnern an den Tallit. Tefillin werden in neue Bezüge gebracht und sind Namensgeber für die schwarze Box-Tasche »T-fill-in« Bag. Die Kollektion inklusive Logbook und Videoproduktion war ein großer Erfolg.
Das Video drehten wir in Jerusalem. Die orientalisch anmutende Musik ist von Ibrahim Maalouf. Bei der Produktion wurde ich in aller Konsequenz mit der Tatsache konfrontiert, dass wir heute alle vernetzt sein müssen, wenn wir Qualität und Erfolg haben wollen.
So mussten wir wegen eines Sturms in Jerusalem kurzfristig umplanen und in Jaffa drehen. Spontan musste ich die gesamte Produktion umdenken, auch personell. Ich fand einen Videokünstler im Netz, den ich im realen Leben vermutlich nie getroffen hätte. Mit ihm wurde die Arbeit fertiggestellt – mit Erfolg. Ich bekam den Modepreis der Stadt München, führte viele Interviews mit Fachmagazinen, knüpfte neue Kontakte. Jetzt bin ich 31. Vor allem eines habe ich gelernt: Wer erfolgreich sein will, muss sich gut verkaufen können.
Durch die Digitalisierung gibt es eine Demokratisierung der Mode – sie hat zwar ihren Glamour nicht verloren, gleichzeitig aber ist sie handfester, straßentauglicher geworden.
Heute, wo durch Instagram, Pinterest, Twitter und andere Social-Media-Plattformen jeder Moment viral gehen kann, wird jeder Ort zur Location und jeder Auftritt in einem Café oder auch nur davor zum Laufsteg. Das Spiel mit der Mode hat eine andere Dimension erreicht – auch wenn sich dessen nicht alle Menschen bewusst sind. Trotzdem gibt es durch die Digitalisierung auch eine Demokratisierung der Mode – sie hat zwar ihren Glamour nicht verloren, gleichzeitig aber ist sie handfester, straßentauglicher geworden.
Wenn mich jemand fragt, was er tragen soll, sag ich: Trag, was dich glücklich macht. Aber es gibt natürlich Dinge, die für mich persönlich nicht gut aussehen: braune Schuhe zum dunklen Anzug oder braune Schuhe zum schwarzen Gürtel etwa. Es gibt ja gute Alternativen.
BEGEGNUNGEN Ich habe 1001 Sachen gemacht nach dem Studium, war viel unterwegs, auch in Amerika und Australien. Ich bin rastlos. Eine meiner Schwächen scheint zu sein, dass ich gleichzeitig an mehreren Orten sein möchte. Ich finde so viele Dinge spannend, will alles erleben, bin offen, nehme alles auf. Gleichzeitig bin ich harmoniebedürftig. Ich genieße die Zeit mit Vertrautem und bestelle zum Beispiel immer dasselbe Gericht, weil ich weiß, dass es mir schmeckt.
Mir ist aufgefallen: Immer, wenn ich nicht in Deutschland war, habe ich mein Jüdischsein viel stärker erlebt. In New York bin ich manchmal in Synagogen gegangen, deren Rabbiner ich über eine Dating-App kennengelernt hatte. Dann hieß es: Komm doch mit in unsere Synagoge – ein eher ungewöhnlicher Gedanke für Deutschland.
Arnheim, eine kleine Stadt nahe Amsterdam, nannte ich ein Jahr lang mein Zuhause. Rückblickend war die Zeit eine der schönsten meines Lebens. Ähnlich wie New York. In beiden Städten habe ich so viele spannende Menschen kennengelernt – das war die Essenz dieser Zeit.
Mir ist aufgefallen: Immer, wenn ich nicht in Deutschland war, habe ich mein Jüdischsein viel stärker erlebt.
Ich liebe zwischenmenschliche Beziehungen, mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, herumzuspinnen, Ideen zu entwickeln, einfach mal zu machen. Das fehlt mir in Frankfurt oft. Ich glaube, Tokio, Stockholm, Los Angeles und Mexiko City bieten auch so spannende Begegnungen und Möglichkeiten. Doch irgendwann bin ich doch nach Frankfurt zurückgegangen. Frankfurt ist eine Metropole, aber auch ein »Städtle«. Ich habe mich selbstständig gemacht, bin auch Dozent für Content Management und Visual Strategies in der AMD.
Ich weiß, ich werde nicht immer in Frankfurt bleiben, aber ich lebe meiner Familie und Freunde wegen gern hier. Ich bin Gemeindemitglied, war früher sehr viel ehrenamtlich unterwegs, habe den Purimball mitorganisiert und an einem Zeitzeugenprojekt gearbeitet. Aktuell gibt es auch eine Broschüre, die die Stadt Frankfurt und die Jüdische Gemeinde gemeinsam erarbeitet haben. Es geht um Orte, Traditionen und Geschichten. Frankfurt ist klein und trotzdem so voller Power.
Ich würde mir wünschen, dass die Stadt sich noch mehr bewegt und traut. Für das jüdische Leben, nein, eigentlich für ganz Frankfurt wünsche ich mir, dass wir einander mit mehr Akzeptanz und Toleranz begegnen. In unserer Gesellschaft sollte mehr Platz für unterschiedliche Kulturen, Traditionen und Religionen sein, und wir sollten die Traditionen voneinander kennen.
SCHABBAT Ich kenne viele Leute, feiere Schabbat mit meiner Familie und gehe an den Feiertagen in die Synagoge. Dann trage ich ein gutes Jackett, eine gute Hose, weißes Hemd mit irgendeinem Gag wie einem aufgesteckten »Koi«, einem Zuchtkarpfen, am Kragen. Jeans trage ich nie. Mode und die Art, wie wir uns ihrer bedienen, hat sehr viel mit unserem Menschsein zu tun.
Das letzte Mal in Israel war ich, bevor Corona unsere Welt veränderte. So merkwürdig das klingt, aber am Tag vor Erew Jom Kippur fühlte es sich an, als stünde alles vor dem letzten Atemzug. Von der pulsierenden Stadt, dem Grüßen und Rufen auf der Straße bleibt dann wie im Handumdrehen nichts mehr.
Später ist die Stadt wie ein Paradies. Kinder malen auf der Straße, fahren Fahrrad, kleine Gruppen packen mitten auf der Straße ihr Picknick aus, lesen Bücher, unterhalten sich oder spielen halt auch mit dem Smartphone. Es ist der pure Genuss einer Stadt, in der Zeit und Raum eine neue Ordnung finden. Von dieser Magie könnte ich ewig erzählen. Für mich war das wie ein umgekehrter Lockdown.
HORIZONT Wir können es kaum erwarten, dass alles wiederkommt, wie es war. Das Schöne an dieser Zeit aber ist, dass wir alle miteinander verbunden sind durch die sozialen Medien. Und wir werden das Handwerk wieder mehr zu schätzen wissen. Jeder, der in dieser Zeit ein kleines Video gedreht hat oder digitale Konferenzen abhält, weiß, wie mühevoll das vielleicht am Anfang war. Die digitalen Medien haben unseren Horizont stark erweitert. Früher mussten umständliche Reisen getätigt werden, um andere Menschen zu treffen. Das ist jetzt natürlich anders.
Ich teile gern mit jedem meine jüdische Identität. Was meine beruflichen Pläne betrifft, greife ich auf Erfahrungen aus meinem Masterstudium zurück. Damals habe ich begriffen, dass erst der Einsatz vieler Köpfe und Hände ein Produkt ermöglicht und es zu dem macht, was es letztlich ist.
Ich denke schneller als ich handle, und mein Kopf ist ein einziges Chaos – ein Spielplatz, eine Savanne, wo Giraffen und Elefanten Riesenrad fahren. Hochhäuser sind aus Wachs, und kleine Schokoladenwürfel fliegen durch die Luft. Es ist laut und wild. Erst durch das Filtern dieses Chaos und in der Zusammenarbeit mit anderen entstehen neue Kollektionen und Projekte. Ich könnte sagen: Ich bin Chen Jerusalem, und ich bin kreativ. Und wenn Kreativität gebraucht wird, bin ich da.
Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen